Schattenspur
sich. Kia versteifte sich und hob abwehrend die Hand. Er ließ sie los und blickte sie mit einer M i schung aus Besorgnis und Verletztheit an.
„Was ist denn los, Joy?“
Vielleicht lag es an dem kalten Hauch, den sie vorhin gefühlt hatte oder an dem seltsamen Verhalten ihrer Großmutter, aber sie brachte heute nicht die Geduld auf, höflich zu sein. „Gib es auf, Charlie. Ich mag dich, du bist ein netter Kerl, aber trotzdem wird aus uns niemals ein Paar werden. Nie. Also vergeude nicht deine Zeit mit weiteren fruchtlosen Versuchen.“ Sie ignorie r te, dass er sie betroffen ansah und ging in die Küche. Auf dem Herd brutze l ten Okraschoten und köchelte eine Chili-Sahne-Soße vor sich hin, während Fischfilets in der Bratröhre schmorten. Charlie kam ihr nach und blieb u n schlüssig in der Tür stehen.
„Warum, Joy? Bist du“, er räusperte sich, „lesbisch?“
Das wäre eine perfekte Begründung gewesen. Sie hätte Ja sagen sollen und damit ein für alle Mal ihre Ruhe gehabt, weil Charlie das seinen Freunden erzählt hätte, die es in Windeseile im ganzen Viertel herumgetratscht hätten. Aber das wäre eine Lüge. „Nein.“ Sie tat einen tiefen Atemzug. „Ich will dir nicht wehtun, Charlie. Aber Fakt ist: Ich kann nicht, ich will nicht, ich werde nicht. Also lass es gut sein.“ Er wartete darauf, dass sie ihm eine nähere E r klärung lieferte, aber das hatte sie nicht vor. Charlie war jedoch nicht der Typ, der kampflos aufgab.
„Bitte nenn mir den Grund. Ich möchte es nur verstehen. Danach lass ich dich in Ruhe. Mein Wort drauf. Hast du – jemand anderen?“
Sie schloss für einen Moment die Augen. Wieso konnte er nicht einfach verschwinden? Sie sah ihn ernst an. „Okay, Charlie. Du willst einen Grund, hier ist er: Du bist einfach nicht mein Typ. Das ist alles. Und jetzt erwarte ich, dass du zu deinem Wort stehst und mich in Ruhe lässt.“
Er sah sie mehrere Sekunden an mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht deuten konnte. Schließlich nickte er. „Du hast recht, das tut weh. Aber damit kann ich leben. Danke.“ Er nickte ihr zu und ging.
Sie atmete auf. Sie hätte nicht gedacht, dass er so einfach loszuwerden wäre. Wenn sie das gewusst hätte, hätte sie ihm schon längst die ungeschminkte Wahrheit gesagt. Einerseits tat es ihr leid, dass sie ihn vor den Kopf gestoßen hatte. Andererseits war sie erleichtert, weil sie nun endlich Ruhe hatte. Z u mindest hoffte sie das. Manche Männer verkrafteten kein Nein und wurden durch eine Abfuhr erst recht angespornt, sich noch mehr ins Zeug zu legen. Wenn sie Pech hatte, hatte sie Charlie gerade zum Stalken animiert. Das hätte ihr noch gefehlt.
Sie hörte die Stimme ihrer Großmutter durch das offene Fenster, die unten im Laden mit Charlie sprach, auch wenn sie kein Wort verstehen konnte. Ihr besorgter Tonfall sagte Kia, dass sie ihr Rede und Antwort stehen musste, sobald Charlie das Haus verlassen hatte.
Da kam sie schon. Blieb mitten in der Küche stehen, stemmte die Hände an die Hüften und blickte Kia vorwurfsvoll an. „Kianga, was ist nur los mit dir?“ Ihr gespielter Zorn hielt jedoch nur ein paar Sekunden an. „Kind, ich will doch nur, dass du endlich wieder glücklich wirst.“
Die Liebe und Fürsorge, die aus der Stimme ihrer Großmutter sprachen, waren zu viel für Kia. Sie brach in Tränen aus.
„Ach, Kind!“
Großmutter nahm sie in die Arme, drückte sie an sich und wiegte sie hin und her. Sie schob sie ins Wohnzimmer, setzte sich mit ihr auf die Couch und streichelte ihren Kopf und ihren Rücken, was Kia nur noch mehr zum We i nen brachte.
„Oh mein Sonnenschein, es wird alles wieder gut. Du musst es nur zula s sen, meine kleine Kia.“
Kia klammerte sich an sie und ließ ihren Tränen freien Lauf. Großmutter meinte es gut, aber sie würde niemals glücklich sein. Und nichts würde jemals wieder gut werden. Ganz abgesehen davon, dass ihr ganzes Leben noch nie gut gewesen war. Dabei wünschte sie sich nichts sehnlicher als ein normales Leben, ohne ständige Angst, ohne immer auf der Hut zu sein; ohne sich überall wie eine Fremde zu fühlen. Und ja, sie wünschte sich auch einen Mann. Aber gerade dieser Wunsch würde für immer ein Traum bleiben.
Sie weinte eine Weile und genoss es, sich zur Abwechslung mal auf jemand anderen stützen zu können statt immer nur auf sich selbst. Aber letztendlich war auch das nur eine Illusion. Wenn es hart auf hart käme, musste sie das allein bewältigen. Andernfalls würde sie
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