Schattenspur
flechten?“
„Danke, heute nicht.“ Heute war ihr danach, ihr Haar offen zu tragen, nachdem sie es den ganzen Tag für den Unterricht und ihr Training in einen strengen Knoten hatte binden müssen.
„Hallo, Alma.“
Kia zuckte beim Klang der Männerstimme hinter ihr zusammen. Als sie sich umdrehte, blickte sie in das dunkle Gesicht von Charlie Hannah, der heute seine Rastazöpfe am Hinterkopf mit einem Band aus Muschelperlen zusammengeknotet hatte, dessen lange Enden er sich als Stirnband um den Kopf gebunden hatte. Das verlieh ihm zu seiner durchtrainierten Figur das Aussehen eines schwarzen Kriegers aus alten Zeiten. Er grinste Kia an.
„Hi, Joy.“
Da Kia nach ihrer Flucht aus Haiti den neuen Nachnamen ihrer Großmu t ter angenommen hatte, war es ihr sicherer erschienen, ihren Vornamen ebe n falls nicht mehr zu benutzen. Deshalb hatte sie ihren zweiten Vornamen Joy als Rufnamen gewählt. Sollte man sie suchen – Louis suchte garantiert nach ihr – würde er nach allen möglichen Namenskombinationen suchen, die sie verwenden könnte, die aus einem ihrer Vornamen und dem Mädchennamen ihrer Mutter oder Großmutter bestand. Auf eine Joy Renard aus Savannah würde niemand kommen.
„Hi, Charlie.“
Er wandte sich an ihre Großmutter. „Ich möchte meine Bestellung abh o len, Alma.“
„Komm rein.“
Er musterte Kia von oben bis unten. „Du siehst toll aus.“
„Danke.“
Ihre Großmutter schüttelte den Kopf. „Ich weiß gar nicht, was ihr jungen Leute an Magerkeit schön findet.“
Charlie lachte. „Ach, Alma!“ Er legte den Arm um ihre Hüften und drückte sie an sich. „Es kann doch nicht jeder so gesegnete Formen haben wie du.“ Er zwinkerte Kia zu.
Sie verbiss sich das Lachen. ‚Gesegnete Formen’ war die Untertreibung des Jahrhunderts. Wenn ihre Großmutter in der Tür stand, war diese vollständig blockiert, sodass nicht einmal ein Hund sich an ihr hätte vorbeizwängen kö n nen. Sie folgte ihr und Charlie in den Laden, wo Großmutter ihm ein Paket mit einer speziell für ihn zusammengestellten Teemischung reichte.
„Bleib doch zum Essen, Charlie. Joy hat auch noch nichts gegessen.“
„Gern.“ Er lächelte Kia zu.
Sie seufzte. Das hätte sie sich denken können. Großmutter hatte mit ihren Verkupplungsversuchen begonnen, kaum dass Kia einen Monat bei ihr wohnte. Unter dem Vorwand, dass sie noch vor Ladenschluss dringend i r gendwelche Bestellungen abholen mussten, hatte sie ihr wohl sämtliche he i ratsfähigen und heiratswilligen Männer des Viertels vorgeführt und alle A n stre n gungen unternommen, Dates zu arrangieren. Sie konnte oder wollte einfach nicht begreifen, dass allein der Gedanke an eine Heirat für Kia der blanke Horror war. Sie war nicht ohne Grund aus Haiti geflüchtet. Zum Glück b e saß sie die amerikanische Staatsbürgerschaft, sodass es mit ihrer Übersiedlung keine Probleme gegeben hatte. Selbst wenn sie keinen Grund gehabt hätte, sich zu verstecken und auf eine Familie zu verzichten, war eine feste Bezi e hung dennoch ausgeschlossen. Sie hätte vor ihrem Mann ständig etwas sehr Wichtiges verbergen müssen, das sie niemandem anvertrauen konnte. Nicht einmal einem geliebten Menschen. Doch eine Beziehung, in der ein Partner vor dem anderen ein so gravierendes Geheimnis verbarg, konnte auf die Dauer nicht gutgehen.
Deshalb hatte sie Großmutter und den Heiratskandidaten den Gefallen g e tan, einmal mit ihnen auszugehen, hatte aber auf subtile oder sehr direkte Weise keinen Zweifel daran gelassen, dass eine Beziehung für sie nicht infrage kam und alles andere erst recht nicht. Manche hatten sofort kapiert, einige erst später, aber inzwischen hatten alle aufgegeben. Bis auf Charlie. Er war der Überzeugung, dass steter Tropfen den Stein höhlte und Kia eines Tages nachgeben würde, wenn er ihr durch seine Hartnäckigkeit bewies, wie ernst es ihm war. Er hatte keine Chance. Selbst ohne die Last der Vergangenheit und des Geheimnisses, die sie zu tragen hatte, war er nicht ihr Typ, obwohl er wirklich nett war.
Er lächelte sie immer noch an. Sie schüttelte den Kopf und verzog sich in die Wohnung über dem Laden, um den Tisch zu decken. Charlie folgte ihr.
„Ich habe eure Ballettvorführung beim Spring Festival besucht, Joy. Du warst klasse.“
Sie schnitt eine Grimasse. „Dann war der Donnerhall, den ich gehört habe, also dein frenetisches Klatschen. Haben dir die Hände nicht we h getan?“
Er lachte, legte einen Arm um sie und zog sie an
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