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Schattensturm

Schattensturm

Titel: Schattensturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Saumweber
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Anschließend zog er eine frische Hose und ein frisches Hemd an und gürtete sich
Wasserklinge
um. Nachdem er sich erneut seinen tropfenden Umhang umgeworfen hatte, machte er sich auf den Weg zum Haus des Häuptlings.
     
    Nerins Langhaus war ein dreißig Meter langes Gebäude. Es war wie Ronans Haus noch vor dem Letzten Germanenkrieg errichtet worden und zeigte die typischen Merkmale eines Wikingerbauwerks, mit Wänden und einem Dach aus geklinkerten, sich überlappenden Holzbrettern, ganz so, wie sie auch ihre Schiffe gebaut hatten. Ganz oben unter dem etwa fünf Meter hohen Dachfirstbefand sich ein Abzug, aus dem blasser Rauch quoll. Das Holz im südlichen, hinteren Teil des Hauses war noch hell und frisch und Zeugnis des Schadens, den das Gebäude durch den Brand genommen hatte. Das Langhaus war eines der wenigen, die bereits repariert worden waren. Die meisten anderen waren nur notdürftig versorgt, mit Lederplanen und Tüchern, die Wind und Regen abhalten sollten. Er öffnete die schwere Eichentür an der Stirnseite des Langhauses und trat ein.
    Drinnen war es unangenehm warm und stickig. An den Wänden brannten Fackeln, auf den Bänken standen Dochtlampen in Bechern voller Schweinefett, und auf der Kochstelle war ebenfalls ein heißes Feuer entzündet, so dass die Halle für Innenweltverhältnisse geradezu hell erleuchtet war. Etwa zwanzig oder dreißig Menschen hatten sich versammelt und saßen an den Bänken oder standen herum, allesamt Verwandte des Häuptlings oder greise Hauptmänner des Stammes. Einige von ihnen, vor allem die Frauen, hatten Tränen in den Augen.
    Augenscheinlich hatte man ihm im Feldlager der Ratsarmee die Wahrheit gesagt: Nerin war nicht gestorben. Offenbar war aber auch der Instinkt der Krieger nicht ganz falsch gewesen, die behauptet hatten, Nerin sei tot. Lang konnte es nicht mehr dauern, sonst hätte sich hier keine solche Versammlung zusammengefunden. Derrien wäre am liebsten rückwärts wieder aus der Halle getreten, denn es gab nicht viele Dinge, die er mehr hasste als sterbende Menschen. Doch man hatte ihn bereits gesehen, und nun musste er mit ihnen trauern, ob er wollte oder nicht …
    »Fürst Derrien!«, rief eine ungefähr dreißigjährige, dunkelhaarige Frau und eilte zu ihm. Sie hatte Nerins schwarze Augen und sein rundliches Gesicht und war vermutlich eine seiner Töchter. »Es ist so gut, dass Ihr gekommen seid! Er hat schon mehrmals nach Euch gefragt!« Sie ergriff seine Hand und führte ihn an den Bänken und Menschen vorbei nach hinten, wo eine Tür zum Schlafraum des Häuptlings führte.
    Ein Kohlebecken neben dem Durchgang glomm vor sich hinund verbreitete stickige Wärme. Daneben gab es auch hier Fackeln und Öllampen zur Beleuchtung. Nerin lag auf seinem Lager, der Oberkörper unterstützt von mehreren federgestopften Kissen. Sein Atem kam schwer, jeder Zug von einem Rasseln begleitet, wie bei einem Mann mit einer Lungenverletzung. Er hatte, schon seit Derrien denken konnte, ein wenig wie eine wandelnde Leiche ausgesehen, doch nun war der Effekt doppelt so stark. Seine ohnehin blasse Haut war totenbleich, die vielen Altersflecken stachen hervor wie schwärende Wunden. Er war verschwitzt, sein schütterer, grauer Bart war strähnig und ungepflegt. Seine schwarzen Augen, einst so wach und listig, waren stumpf und fiebrig. Er war dürr und abgemagert. Um das Lager herum knieten oder saßen mehrere Leute, seine Frau, seine beiden verbliebenen Söhne, der Druide Briand, der direkt nach Hause gereist war, als die Nachricht von Nerins Verletzung im Lager angekommen war, sowie Konvoion, der Oberste seiner Hauptmänner. Derrien nickte ihnen zu und stellte sich an die Wand, während sich die Tochter über ihren Vater beugte und ihm ins Ohr flüsterte.
    Seine Augen wirkten für einen Moment wach. »Derrien«, röchelte er. »Ich … will ihn … sprechen …«
    Derrien trat an den Leuten vorbei und ging neben ihm in die Knie. »Ich bin hier, Häuptling Nerin.«
    Er schüttelte einmal schwach den Kopf. »Du bist … Häuptling …«
    Derrien holte Luft, um zu antworten. Es würde dem sterbenden Mann nicht schmecken, wenn er ihm sagte, dass er das Amt weitergegeben hatte, doch das war ihm gleichgültig. Nerin hatte zeitlebens nicht auf die Befindlichkeiten anderer Rücksicht genommen, warum sollte Derrien es dann tun? Allein der Gedanke, dass Ronan ein solches Verhalten niemals akzeptiert hätte, hielt ihn zurück. »Wie ist es passiert?«, fragte er stattdessen. Nerin war

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