Schattensturm
in der die Schatten sie entdeckt hatten, vor einem halben Jahr, als sie noch keine Druidin gewesen war und noch nichts von der Innenwelt gewusst hatte. Doch plötzlich waren es keine Schatten mehr, die sie verfolgten, sondern hünenhafte Männer mit blonden Haaren, wilden Bärten und SS-Uniformen, die sie durch die Stadt jagten. Als sie sie packten und auf sie einzuschlagen begannen, erwachte sie wild schreiend.
»Alles in Ordnung?«, fragte Brynndrech besorgt.
»Alles … alles in Ordnung«, keuchte Keelin. Schweiß stand ihr auf der Stirn. Alles drehte sich, und ihre Zunge schmeckte wie … Ihr fiel kein passender Vergleich ein. Scheußlich.
Als sich Brynndrech schließlich davon überzeugen ließ, dass tatsächlich alles in Ordnung war, und sich wieder zurück auf seine Seite gedreht hatte, dachte sie an Tiernans Worte.
Visionärer Charakter! Die Nazis kommen also zurück …
Sie schüttelte den Kopf. Absurd. Es war klar, dass das Gerede um das Hakenkreuz den Alptraum verursacht hatte.
Etwas verstört drehte sie sich um, um weiterzuschlafen. Ihre Alpträume hatten nachgelassen, als sie nach Schottland zurückgekehrtwar, sie hatte gehofft, sie nun für längere Zeit los zu sein. Ob wohl der Alkohol daran schuld war, dass diese Träume zurückgekommen waren? Sie schickte ein Stoßgebet an Bormana, die Muttergöttin, und an Sul, den Heiler, sie von weiteren Alpträumen zu verschonen. Dann schloss sie die Augen und schlief schnell wieder ein.
Der Traum, der dann folgte, handelte von ihrem Bruder …
DERRIEN
Kêr Bagbeg am Romsdalsfjord, Norwegen
Mittwoch, 26. Mai 1999
Die Innenwelt
Es war ein weiterer trüber norwegischer Regentag. Der Himmel war überzogen von einem weißen Wolkenschleier, aus dem schon seit Stunden ein unangenehmer Nieselregen fiel, der sich im ersten Moment nicht sonderlich nass anfühlte, aber dennoch überraschend schnell sämtliche Kleiderschichten durchfeuchtete. Der Fjord war graublau, träge und wellenlos, die Wasseroberfläche gebrochen vom Aufprall der zahllosen kleinen Tropfen. Kêr Bagbeg lag still und schweigend an seinem Ufer. Nichts regte sich außer ein paar Hunden, die Derriens Ankunft witterten und lautstark anschlugen.
Aber es war nicht mehr das Kêr Bagbeg, das er zurückgelassen hatte. Einige der Häuser und Hütten, besonders die der Fischer nahe dem Ufer, waren niedergebrannt, viele andere trugen zumindest die Narben eines solchen Feuers. Etliche Gebäude hatten kein Dach mehr, weil man in der Eile der Nacht mit den Hakenstangen die Strohmatten herabgezogen hatte, um sie dort auszutreten, und nun nicht mehr genügend Arbeitskraft vorhanden war, sie wieder auf die Dächer zu schaffen. Wenigstens war die Brücke über den Raumafluss noch intakt. Derrien wusste nicht, ob es jemanden in der Stadt gab, der das Bauwerk neu hätte konstruieren können …
Sein erstes Ziel war die kleine Hütte, die er üblicherweise bewohnte, wenn es ihn nach Kêr Bagbeg verschlug. Auf dem Marsch hierher hatte er lange darüber nachgedacht, vielleicht in das Haus seines Bruders zu ziehen, falls es noch stand, hatte sich dann aberdagegen entschieden. Er war nicht Ronan, und er würde auch nicht seine Nachfolge antreten.
Die Tür schwang mit einem lauten Knarren nach innen. Es war finster, doch das störte ihn nicht. Er konzentrierte sich und wirkte einen kurzen Zauber, der es ihm ermöglichte, mit Eulenaugen zu sehen, so dass von der Dunkelheit nichts mehr übrig blieb.
Seine Hütte war sauber aufgeräumt. Auf der Feuerstelle inmitten des einzigen Raums war altes, trockenes Holz aufgeschichtet, darunter Reisig und Zunderschwamm. Das Stroh seines Lagers sah frisch aus. Ein Blick in die Truhe verriet ihm, dass er Kleider zum Wechseln hatte sowie ein frisches Tuch, das er über das Stroh breiten konnte. Verglichen mit dem, wie seine Hütte normalerweise aussah, grenzte das bereits an Luxus.
Die Hütte instand zu halten war schon immer eine Aufgabe gewesen, die irgendwelchen Männern aus Häuptling Nerins Gefolge aufgetragen gewesen war. Bisher hatten sie sich nie sonderlich darum bemüht, doch die Zeiten hatten sich offenbar geändert. Nerin war schwer verletzt, Ronan war tot und Derrien der naheliegendste Kandidat, der nächste Häuptling der Bretonen zu werden. Er fragte sich, wie die Hütte wohl ausgesehen hätte, wenn die Leute gewusst hätten, dass er die Nachfolge an Aouregan abgetreten hatte.
Er zog sich aus und wusch sich mit Wasser aus einem bereitstehenden Trog.
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