Schattentänzer
Luft in allen Sälen so frisch und sauber, als wanderte ich durch Sagraba, nicht aber durch ein unterirdisches Reich. Vermutlich steckte auch hier Magie dahinter.
Die Strophe aus dem Gedicht fiel mir ein, das ein Magier des Ordens verfasst hatte:
So du kühn und flink, so du auf List dich verstehst,
So dein Schritt leicht und scharf wie kühl dein Verstand,
Wird es sein, dass all unseren Fallen du entgehst,
Wird es sein – wenn du meidest Feuer, Wasser, Land.
Bislang war nichts von alldem geschehen, Sagoth sei gepriesen. Wenn sich doch auch nur in Zukunft keine der Zeilen dieses dummen Gedichts bewahrheiten würde!
Und obwohl ich keinerlei Gefahren bestanden hatte, überkam mich irgendwann eine bleierne Müdigkeit. Womöglich rührte das daher, dass ich angespannt von Schatten zu Schatten gehuscht war, jedes Licht gemieden und ständig haltgemacht hatte, um auf die Stille zu lauschen. Es waren also nicht bloß meine Beine müde, sondern auch mein Kopf.
Als ich in der hinteren Ecke eines schummrigen Saals ein passendes Plätzchen fand, legte ich deshalb erneut eine Rast ein. Inzwischen hatte ich gewaltigen Hunger bekommen und verschlang gleich einen halben Zwieback. Dieses Gebäck war nicht größer als mein Handteller, verfügte jedoch über magische Eigenschaften. Nach nur einem halben Stück fühlte man sich, als habe man an einem königlichen Festmahl teilgenommen und dort hundert verschiedene Gerichte versucht. Allerdings sättigte dieser Zwieback nur, bereitete dem Gaumen jedoch keinerlei Freude. Bestenfalls schmeckte er wie Brot, schlechtestenfalls wie verfaultes Heu. Anschließend spülte ich das Ganze mit etwas Wasser aus meiner Flasche herunter und richtete mir ein Nachtlager. Heute war ich zu müde, um meinen Weg fortzusetzen. Mit der Armbrust neben mir schlief ich ein.
Wie ein Baby schlief ich wahrlich nicht. Hrad Spine war kein Ort für süße Träume. Ich pendelte zwischen Traum und Wachen und griff wiederholt nach meiner Armbrust, machte aber nie eine Gefahr aus. Keine Ahnung, was mich hatte aufwachen lassen. Trotz allem erquickte mich der Schlaf, und ich überstand ihn – o Wunder! – sogar unversehrt und in einem Stück. Niemand hatte mir ein Bein oder den Kopf abgebissen, Sagoth sei gepriesen!
Vor der breiten Steintreppe, die zur zweiten Terrasse hinunterführte, zögerte ich kurz. Ich wusste nicht, was sich dort in der Finsternis verbarg, und wollte auf gar keinen Fall an meiner eigenen Haut erfahren, wie scharf die Zähne der hiesigen Monster waren. Da das Horn des Regenbogens jedoch nicht zu mir nach oben kommen würde, holte ich seufzend ein »Feuer« aus meiner Tasche und betrat die erste Stufe.
Auf der Treppe herrschte tiefe Dunkelheit. Ohne das kalte Licht des »Feuers« hätte ich gewiss eine geschlagene Stunde für den Abstieg gebraucht. Irgendein Schweinehund hatte nämlich entweder aus Saumseligkeit oder in böser Absicht nicht daran gedacht, Fackeln an den Wänden anzubringen. Die Treppe wand sich keineswegs in Spiralen, schlängelte sich nicht wie eine besoffene Viper, sondern zog sich schnurgerade in die Tiefe. Bis zur zweiten Terrasse zählte ich eintausendzweihundertundvierundvierzig Stufen. Wer dieses lange Unding gebaut hatte, würde mir für alle Ewigkeiten ein Rätsel bleiben. In Gedanken verfluchte ich den Kerl. Besonderer Grimm packte mich, wenn ich daran dachte, dass ich all diese Stufen auch wieder erklimmen musste. Warum war es dem Burschen bloß nicht in den Sinn gekommen, Förderkörbe einzubauen, wie es sie in den Höhlen der Gnome oder Zwerge gab. Doch sollten die Götter über den Baumeister richten. Mein Gejammere würde nichts ändern – und schon gar nicht dazu führen, dass Garrett der Schatten einen Förderkorb bekam.
Die zweite Terrasse unterschied sich im Übrigen grundlegend von der ersten. Die Decken waren gewölbt, die Wände nicht länger nackt und leblos. Ich entdeckte Bilder und Inschriften, einige davon sogar in Menschensprache. Vornehmlich handelte es sich um Hinweise auf bestimmte Gräber. Dann gab es noch etwa alle Hundert Schritt einen Gargoyle, von denen aber jeder anders gestaltet war. Die unbekannten Bildhauer hatten Wasserspeier in allen Größen und Posen geschaffen. Viele von ihnen wirkten so widerwärtig, dass mir allein bei ihrem Anblick die Knie zitterten. Da sie unmittelbar aus den Wänden herauswuchsen, musste ich zudem an gewisse Dämonen denken, mit denen ich in Awendum verschiedene Abenteuer erlebt hatte. Die hätten mit
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