Schattenturm
heraus und schlug das Buch auf, konnte sich aber nicht konzentrieren. Stattdessen schaute sie hinaus in den Garten. Eine junge Pflegerin betrat das Zimmer.
»Wer war das denn, Mrs Genzel?«
Mrs Genzel drehte sich nicht zu der jungen Frau um. »Wenn ich das wüsste«, sagte sie mit trauriger Miene und schüttelte den Kopf. »Aber wen könnte ich fragen?«
Die Pflegerin lächelte. »Er war süß .«
Das gelbe Dreirad mit dem bunten Wimpel an der Lenkstange funkelte in der brütenden Hitze. Cynthia Sloane öffnete die Hintertür des Hauses. In der grellen Sonne zeichneten sich ihre schlanken Beine unter dem dünnen Stoff ihres Kleides ab. Sie war müde und erschöpft. Seit drei Tagen wurde sie jedes Mal, wenn sie ihren Mittagsschlaf halten wollte, vom Geschrei einer Katze geweckt, die wie ein Baby auf dem Hof jammerte und kreischte. Cynthia, die von zwei Kleinkindern und einem Neugeborenen auf Trab gehalten wurde, sehnte sich nach Schlaf, und die Katze machte sie schier wahnsinnig.
Sie hielt einen Besen in der Hand und wartete. Schließlich hörte sie das Miauen, und diesmal war sie gewappnet. Cynthia rannte auf den Hof und blieb in der Mitte stehen. In der schattigen Ecke, die an den Pfad grenzte, hörte sie ein kaum vernehmliches Knacken. Leise schlich sie dorthin, stieß den Besen ins Gebüsch, zog ihn wieder heraus und stieß erneut zu. »Hau ab, du blödes Vieh«, rief sie. »Verschwinde!« Plötzlich griff eine Hand nach dem Besen und riss Cynthia nach vorn, sodass sie in den Schmutz fiel. Sie schrie auf. Sofort stürzte Donnie sich auf sie und presste ihr eine Hand auf den Mund. Cynthia wand sich, griff nach dem Besen und stieß ihm den Stiel ins Gesicht. Donnie packte noch fester zu und zerrte Cynthia auf den Pfad, wo Duke wartete. Ihr Wagen stand versteckt im Schatten.
25.
Joe eilte durch das Haus ins Arbeitszimmer.
»Oh, verdammt!«, rief er, als er seinen Antrag auf Wiedereinstellung bei der New Yorker Polizei auf dem Fußboden liegen sah. Er schüttelte den Kopf. Schuldgefühle überkamen ihn. Sein erster Gedanke war, in einer Lüge Zuflucht zu suchen und zu behaupten, der Brief sei nur für eine Notlage gedacht. Er könnte sogar Anna die Schuld in die Schuhe schieben und behaupten, er hätte den Brief geschrieben, als er von ihrer Affäre mit John Miller erfahren hatte. Doch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Anna war zu clever, ihm diese Lüge abzukaufen. Sie wäre nicht gegangen, wenn sie geglaubt hätte, dass es für den Brief eine andere Erklärung geben könnte als das Offensichtliche.
Zorn stieg in ihm auf. Sein Beruf war sein Leben. Warum musste er immer das tun, was Anna wollte?
Aber das war eine faule Ausrede. Außerdem stimmte es gar nicht: Er hatte sich nur ein einziges Mal nach Annas Wünschen gerichtet, als er mit ihr nach Irland gegangen war.
Joe ging ins Schlafzimmer und riss die Schranktür auf, um nachzusehen, ob Anna einen Koffer mitgenommen hatte. Er atmete erleichtert auf, als er die zahlreichen Reisetaschen im obersten Fach liegen sah. Dabei hätte er gar nicht mit Gewissheit sagen können, ob Anna einen Koffer oder eine Tasche mitgenommen hatte. Gleiches galt für ihre Kleidung und ihre Schuhe.
»Verdammt«, fluchte Joe, setzte sich aufs Bett und legte den Kopf aufs Kissen. Er roch ihr Parfum – Zitrusfrüchte und Gräser.
Nach einer Weile schwang Joe sich wieder vom Bett und ging hinunter zum Telefon. Er wählte Annas Handynummer und hörte eine freundliche Stimme sagen: »Der Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar …« Oder er hat die Nase voll von dir, fügte Joe stumm hinzu. Er schaute auf die Uhr. Es war ein Uhr nachts. Ob Anna dermaßen sauer war, dass sie keinen Zettel hinterlassen hatte und nicht einmal anrief?
Joe presste eine Hand aufs Herz, um den Schmerz zu lindern, der durch seine Brust schoss. Er zog die Gardine an der Haustür zur Seite und schaute hinaus. Es war so, als würde er auf einem leeren Tisch nach einem Schlüssel suchen.
Das schnurlose Telefon in der Hand, ging Joe ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Er schaltete die Lampe und den Fernseher ein, nahm die Fernbedienung und zappte durch sämtliche Kanäle, verweilte kurz bei den Nachrichten und zappte dann weiter. Wann immer er ein Geräusch zu hören glaubte, stellte er den Ton ab. Schließlich machte er den Fernseher aus und blieb in der Stille des Zimmers sitzen.
Noch einmal wählte er Annas Handynummer und bekam wieder die freundliche Information, dass der Teilnehmer
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