Schattenturm
nicht erreichbar sei. Zorn erfasste ihn. Was immer er getan hatte – das hatte er nicht verdient. Er liebte Anna, und das wusste sie. Er war kein Säufer oder Schläger, der sie schlecht behandelte. Was hatte er falsch gemacht?
Noch einmal versuchte er, sie zu erreichen. »Komm schon, geh ran«, flüsterte er eindringlich. Doch wieder erreichte er nur die Mailbox.
Er nahm das erstbeste Buch, das er unter dem Couchtisch fand, und betrachtete geistesabwesend die Bilder von Luxussuiten in Nobelhotels. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Anna zur Tür hereinkäme. Der Gedanke, sie könnte ihn verlassen haben, war ihm so unerträglich wie die Vorstellung, sie könnte wieder eine Affäre haben.
Und das alles nur wegen seines verdammten Jobs. Joe ließ sich im Sofa zurücksinken und schloss die Augen.
Zwanzig Minuten später schrak er aus dem Schlaf. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wo er war, und schaute sich um. »Anna?«, rief er. Er stand auf und ging in die Küche, knipste das Licht an und suchte auf dem Kühlschrank nach einer Nachricht. Dann sah er auf dem Küchentisch nach.
Nichts.
Er setzte sich wieder aufs Sofa. Panik erfasste ihn. Es war 2.30 Uhr. Das konnte Anna ihm nicht antun! Ein letztes Mal versuchte er, sie übers Handy zu erreichen. Als sie sich wieder nicht meldete, eilte Joe in die Diele, nahm seine Autoschlüssel und verließ das Haus. Er stieg in den Wagen und fuhr los. Als er an der Stelle vorbeikam, an der man Katies Leichnam gefunden hatte, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken.
»Komm zurück, Anna«, sagte er laut über das Geräusch des Motors hinweg. »Du machst mir Angst.« Nervös klopfte er aufs Lenkrad. Es war kalt und dunkel, und eine innere Stimme flüsterte ihm zu, dass etwas nicht stimmte. Andererseits war es spät, und Joe wusste nicht, ob er der inneren Stimme trauen konnte. Außerdem hatte er nicht geschlafen, und die quälenden Schuldgefühle trübten sein Urteilsvermögen. Er fragte sich, wovor er am meisten Angst hatte: dass Anna etwas zugestoßen war oder dass sein verdammter Brief an die New Yorker Polizei sie dazu getrieben hatte, ihn zu verlassen. Und er wollte, er konnte nicht allein sein. Schaudernd stellte er sich vor, wie er mit Shaun am Wochenende bei McDonald’s saß und wie sich all die anderen geschiedenen Väter, die in die lustlosen Gesichter ihrer Halbwüchsigen starrten, um ein freundschaftliches Verhältnis mit ihren Sprösslingen bemühten.
Plötzlich sah Joe mitten auf der Straße einen Schemen auf der Fahrbahn. Er riss das Lenkrad nach rechts, bremste scharf und hielt am Straßenrand. Als er einen Blick nach hinten warf, erkannte er einen toten Fuchs.
Joe fluchte – teils aus Wut, teils vor Erleichterung. Stundenlang fuhr er durch die Nacht, nur um Anna genug Zeit einzuräumen, zu Hause zu sein, wenn er zurückkehrte. Sein Magen verkrampfte sich vor Angst und Anspannung.
Schließlich fuhr er nach Hause und bog in den Zufahrtsweg ein. Als er das Haus aufmerksam betrachtete, fragte er sich, ob sich etwas verändert hatte, seitdem er weggefahren war. Doch kaum hatte er das Haus betreten, wusste er, dass alles so war wie zuvor. Dennoch stieg er die Treppe hinauf und schaute angespannt in sämtliche Zimmer. Das Herz klopfte laut in seiner Brust, und sein Kiefer war wie festgeschraubt. Als er den Mund öffnete, hatte er das Gefühl, sich sämtliche Zähne auszureißen. Er ging in die Küche, wo die Schmerztabletten lagen, und nahm gleich mehrere auf einmal. Dann setzte er sich im Gästezimmer aufs Bett und legte das schnurlose Telefon und das Handy neben sich. Der Kopf wurde immer schwerer. Bleierne Müdigkeit erfasste ihn, und er schlief ein.
Das Klingeln des Telefons riss ihn aus dem Schlaf.
Anna?
Joe schlug das Herz bis zum Hals, als er zum Hörer griff.
Nora gefiel Franks alter Lehnstuhl nicht. Er war mit braunem Samtstoff bezogen und mit weicher Baumwolle gepolstert. Die Armlehnen waren abgescheuert, der Bezug eingerissen. Der Lehnstuhl stand unten in der Diele und wartete darauf, zum Sperrmüll transportiert zu werden.
In diesem Lehnstuhl fand Nora ihren Mann um acht Uhr morgens schlafend vor. Sein Kopf war nach hinten gesunken, sein Mund geöffnet. Vor ihm auf dem Boden lagen Akten. Nora kniete sich hin und streichelte seine Hände.
»Liebling«, sagte sie.
Frank öffnete langsam die Augen und blinzelte, bis er seine Frau erkannte.
»Oh«, sagte er. »Ich muss eingeschlafen sein. Wie spät ist es?«
»Acht Uhr. Ist
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