Schattenturm
abgetragenen, weißen, fast kniehohen Stiefeletten.
Heute war Westleys zweiter Besuch, und diesmal wollte er das ganze Wochenende bleiben. Beim letzten Treffen mit Westley hatte Wanda geglaubt, vor Langeweile sterben zu müssen, ehe der Montag kam.
Der kleine Duke, eine von Kopf bis Fuß in Rot und Blau gekleidete Gestalt, stürmte aus der Seitentür des Hauses.
»Wen haben wir denn da?«, sagte Westley, dessen Begierde wuchs. »Du bist wohl Superman! Was für ein hübscher kleiner Bursche.« Er lächelte. Duke starrte ihn an und versteckte sich hinter den Beinen seiner Mutter. Westley schaute Wanda an und sah, wie ein Ausdruck von Panik in ihren Augen erschien. Er starrte in ihre geweiteten Pupillen, ehe er sich wieder Duke zuwandte. »Lass mich mal kurz mit deiner Mommy allein, ja?«
Eine halbe Stunde später war Wanda allein in der Küche. Das Radio war eingeschaltet, und sie sang mit Tony Orlando im Duett, wobei sie sich immer wieder über die Arbeitsplatte des Schrankes beugte, das Kokain schnupfte, das Westley mitgebracht hatte und beschloss, die qualvollen Schreie aus dem Schlafzimmer zu ignorieren.
Als Duke zwei Wochen später den Schulhof überquerte und Westley Ames am Tor sah – eine furchteinflößende schwarze Silhouette vor der hellen Sonne –, begann er am ganzen Leib zu zittern. Der Magen drehte sich ihm um, und er erbrach sich auf seine Turnschuhe.
»Reiher-Dukey«, rief Westleys Tochter Ashley mit hämischem Lachen, als sie an ihm vorbeirannte und in die Arme ihres Vaters sprang. Lächelnd ging Duke nach seinem Besuch bei Onkel Bill nach Hause. Er hatte die Wüstenbussarde nie zuvor gesehen und sie erst recht nie auf dem Arm gehalten. Er war gern bei seinem Onkel. In Bills Haus wurde keinem etwas zuleide getan. Nur die arme Wachtel hatte sterben müssen. Zerfetzt. Duke fielen ein paar Leute ein, mit denen er gern dasselbe getan hätte. Als er vor dem Haus seiner Mutter um die Ecke bog, stand einer von ihnen dort und wartete auf ihn. Mit steifen Fingern kämmte er sein dünnes braunes Haar zurück. Er war Anfang dreißig mit einem weichen, jungenhaften Gesicht. Der Mann stand regungslos da, nur seine blauen Augen bewegten sich hinter der schwarzen Brille und nahmen alles in sich auf. Die Hände in die Hüften gestemmt, die Füße in glänzenden schwarzen Schuhen, Hemd und Hose sauber und frisch gebügelt, wartete er. Duke blieb stehen und neigte den Kopf zur Seite, um ihn zu betrachten. Dieser Bursche war ein richtiges Monster. Duke nannte ihn »Huh-Huh«, denn bei seinen ersten Besuchen hatte er immer versucht, die Tränen zu unterdrücken. Der Name war geblieben. Die Tränen waren lange versiegt.
3.
Anna saß auf dem Sofa, ein aufgeschlagenes Buch über irische Leuchttürme auf dem Schoß. Fast zweitausend Meilen Küste und zweiundachtzig Leuchttürme.
Sie drehte sich zu Joe um.
»Weißt du, wie das Motto der irischen Leuchtturmwärter lautet? In salutem omnium – für die Sicherheit aller . Es ist seltsam, aber wenn ich auf unseren Leuchtturm schaue, fühle ich mich wirklich sicher. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, im Sturm draußen auf See zu sein, von hohen Wellen hin und her geworfen zu werden und zu wissen, dass dein Leben allein vom Licht des Leuchtturms abhängt.«
»Du hättest die Leuchtturmwärter bewundert.«
»Sam kennt ein paar tolle Geschichten über sie. Einige von denen haben sogar per Morsezeichen mit den Einheimischen gepokert …«
Das Telefon klingelte. Anna sprang auf und nahm den Anruf in der Küche entgegen.
»Hi, Chloe«, sagte sie und lauschte eine Zeit lang, wobei sie auf und ab ging und die gelbe Schnur hinter sich herzog. Joe sah, wie sie die Stirn runzelte.
»Nein. Ich brauche niemanden, der herkommt und hier seine traditionellen Vorstellungen verwirklicht, weil ich meine eigenen Pläne …«
Als Anna unterbrochen wurde, schaute sie Joe an und verdrehte die Augen.
»Nein, hör zu. Ich habe Brendans Arbeiten gesehen. Das ist etwas ganz anderes. Er wird all die schrecklichen Klischees vermeiden. Ich habe ein paar Telefonate geführt, und offenbar ist er erstaunlich …«
Sie verstummte erneut.
»Ich habe nicht gesagt, dass ich irische Models will! Wir nehmen amerikanische oder französische Mädchen. Aber das ist gar nicht der Punkt. Es geht um Architektur, Chloe. Die Mädchen sollten nicht im Mittelpunkt stehen …«
Anna hielt den Hörer von sich weg; erst als Chloe verstummte, drückte sie ihn wieder ans Ohr.
»Okay, okay. Ich
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