Schattenwandler 01. Jacob
Gesicht rötete und der Puls an ihrem zarten Hals heftig schlug. Ihre Brüste hoben und senkten sich mit jedem Atemzug.
„He!“ Isabella verdrehte die Augen. „Gut! Wie Sie wollen. Gehen Sie nur einfach von der Straße weg!“
„Wieso?“, beharrte er.
Fasziniert sah er, wie sie ihr Haar zurückwarf, einen verärgerten Seufzer ausstieß und mit trotzig gespreizten Beinen die Fäuste in die Hüften stieß.
„Hören Sie, es gibt einfach Orte, wo es nicht besonders schlau ist, mitten auf der Straße herumzustehen und sich zu streiten. Und an so einem Ort sind wir! Wenn Sie unbedingt hierbleiben wollen, soll es mir recht sein. Ich werde jedenfalls …“
Plötzlich keuchte sie, griff sich mit der Hand an den Hals, und ein Gurgeln entrang sich ihrer Kehle. Instinktiv streckte Jacob die Hand aus, um ihr zu helfen, weil ihm ihre weit aufgerissenen lavendelfarbenen Augen nicht geheuer waren.
„Isabella? Was ist los?“, fragte er und zog sie in seine Arme.
„Jemand … Oh Gott, kannst du es nicht riechen?“
Das konnte er allerdings. Es war überall, zwar nur ganz leicht, aber unverkennbar – der Geruch nach verbranntem Fleisch. Auch nach Schwefel. Jacob besaß die Jagdinstinkte eines Raubtiers, doch keiner dieser Sinne ließ ihn diesen Geruch aufnehmen. Es gab keine Spur, keinen Pfad. Es blieb ihm verborgen. Einen Moment lang war er verblüfft. Vor ihm stand eine Menschenfrau, die keine seiner Fähigkeiten besaß, und doch rang sie nach Luft und verhielt sich, als würde sie dicken schweren Rauch und Schwefel einatmen, obwohl sie das eindeutig nicht tat. Zumindest nicht körperlich.
Jemand anders tat es.
Saul.
Irgendwo im Hinterkopf verstand Jacob, obwohl er noch nie so verwirrt gewesen war. Der Vollstrecker hielt nicht inne, um über das Wie und Warum und über die Unmöglichkeit dessen nachzugrübeln, was hier geschah. Er wollte nur eines wissen.
„Wo? Kannst du mir das sagen, Isabella? Wo ist er?“
„Ganz nah! In mir!“ Sie verkrallte ihre Hände über der Brust in ihrer Bluse, als wolle sie das andere Wesen herausreißen. Sie weinte, und dicke Tränen liefen ihr über das Gesicht und versuchten, den Rauch fortzuspülen, den es gar nicht gab.
„Nein. Hör mir zu.“ Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, und ihm wurde bewusst, wie klein es war, wie zart. „Es ist ganz nah, aber es ist nicht in dir. Sieh mich an und sag mir, wo!“
Isabella entwand sich seinem Griff und lief hustend und keuchend vor dem imaginären Rauch davon. Jacob folgte ihr dicht auf dem Fuß. Sie bogen um eine Ecke und überquerten eine Straße. Sie bogen um eine weitere Ecke, und dann standen sie vor einem mächtigen verrosteten Tor aus Wellblech.
Ein Lagerhaus. Es war längst aufgegeben worden, doch in einem der oberen Fenster blitzte grelles Licht. Ein unnatürlich kaltes Licht, von dem Jacob törichterweise angenommen hatte, er würde es nie wieder sehen in seinem Leben. Er nahm die Frau bei den Schultern und zog sie an sich, während er sich zu ihrem Ohr hinunterbeugte. Trotz ihres Größenunterschieds passten sie perfekt aneinander.
„Hör zu“, murmelte er beruhigend, während sie immer noch nach Luft rang. „Es ist nicht dein Todeskampf, Bella. Lass ihn nicht an dich heran.“ Er sah zu dem unheilvollen Leuchten im Fenster hinauf. Sein Herz schlug wild, er musste etwas tun. Aber er konnte sie nicht einfach hier zurücklassen, weil sie sonst ersticken würde. Wenn sie sich den Rauch so fest einbildete, dass sogar ihre Augen tränten und ihre Stimme heiser wurde, dann konnte sie sich auch einbilden, dass sie keine Luft mehr bekommen und sterben würde. „Du siehst doch, hier ist kein Rauch. Hörst du mir zu, Isabella?“
Das tat sie. Sie sagte zwar nichts, doch sie holte seit einer Ewigkeit zum ersten Mal wieder tief Luft.
„Gut“, flüsterte er, und sein warmer Atem strich über ihren empfindsamen Hals. „Jetzt bleib hier in Deckung und atme einfach.“
Jacob griff in den Spalt zwischen den beiden Torflügeln und riss sie auseinander, als seien sie aus Papier und nicht aus tonnenschwerem Stahl. Das Geräusch ließ er so klingen, als würde bloß Metall im Wind quietschen.
Instinktiv folgte Isabella ihm ins Halbdunkel hinter dem Tor, ohne sich um seine Anweisung zu kümmern. Sie hatte Angst vor dem, was geschehen konnte, aber sie hatte noch mehr Angst davor, allein zu sein. Sie folgte ihm, die Schöße seines Mantels fest in der Hand, während er durch die Dunkelheit lief. Grelle Lichtblitze zuckten durch
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