Scheinbar verliebt
konnte.
„Ich dachte, ich beschütze meine Familie“, sagte Clare. „Das habe ich wirklich geglaubt. Was ist mit den Lügen, die du glaubst?“
Lucy wollte über dieses Thema nicht sprechen. Sie fühlte sich entblößt wie damals auf der Sinclair-Gala, als ihr Kleid kaputtgegangen war.
„An dir ist nichts falsch, Lucy. Du bist genauso gut wie alle anderen auch. Glaubst du, ich sehe nicht, wie du dich bei gesellschaftlichen Anlässen immer zurückziehst? Wie du manche Leute meidest?“ Clare legte ihre Bibel auf die Couch. „Als Kind wurdest du abgelehnt und ich würde alle meine Aktien hergeben, wenn ich das ändern könnte. Du hast dein ganzes Leben bisher damit verbracht, von anderen die kalte Schulter zu erwarten. Das kann so nicht weitergehen.“
Tränen traten Lucy in die Augen, als sie in ihrer Erinnerung noch einmal die Hammerschläge hörte.
„Vergeben Sie Clare?“, fragte Julian ungeduldig. „Ich denke, sie sehnt sich danach, diese Worte zu hören.“
Lucys Verstand versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Julian erhob sich. „Ich glaube, es gibt etwas, das Sie sich ansehen sollten, Lucy.“
„Ich habe Hunger“, sagte Clare schnell. „Vielleicht sollten wir erst –“
„Nein.“ Er stemmte die Hände in die Hüften und starrte die beiden Frauen an, als wäre er ein Racheengel. „Wir regeln das heute Abend. Es gibt Dinge, die Lucy wissen muss.“
Lucy konnte eigentlich nichts mehr aufnehmen, doch sie erhob sich wortlos und folgte Julian in den Flur.
Er ging ins Büro und durchwühlte dort die Schublade eines alten Schreibtisches, bis er gefunden hatte, was er suchte.
„Hier.“ Julian ergriff ein Buch und schmiss es mit einem dumpfen Schlag auf den Schreibtisch. „Sehen Sie sich das an.“
Lucy hörte, wie Clare den Raum betrat, aber sie sah sie nicht an. Das Buch, das vor ihr lag, zog sie magisch an. Es war ein Fotoalbum. Auf dem Deckel befand sich ein ovaler Ausschnitt und auf dem Bild dahinter war sie zu sehen. Mit drei Jahren.
„Sie sind nicht die Einzige, die ein Fotoalbum machen kann.“ Julian hatte ihr geholfen, das Album für Alex zusammenzustellen. Und er hatte die ganze Zeit über gewusst, dass Clare dieses hier besaß.
Lucy setzte sich hin und schlug die erste Seite auf. In der Mitte befand sich Lucys Geburtsanzeige, ein Zeitungsausschnitt. Der Name ihres Vaters wurde nicht erwähnt.
Sie blätterte weiter und ihr Herz füllte sich mit jedem Bild. Eins von ihr in der ersten Klasse bei einem Tanzabend. Ihr Pferdeschwanz war zerzaust und die beiden Schneidezähne fehlten. Lucy erinnerte sich daran, dass ihre Mutter sie nach der Aufführung hinter der Bühne abgeholt und ihr eine Rose geschenkt hatte.
Auf der fünften Seite befand sich ein Bericht, den sie in der achten Klasse verfasst und für den sie eine Auszeichnung bekommen hatte. Fragend blickte sie auf. Wie war Clare da herangekommen?
„Sie dachten, Sie wären auf dieser snobistischen Schule, weil Sie ein Stipendium hatten.“ Er deutete mit dem Kopf auf Clare. „Hier ist Ihre Wohltäterin.“
„Warum?“, fragte Lucy.
Clare spielte mit der Goldkette an ihrem Hals. „Ich wollte, dass deine Mutter jeden Cent hat, um sich um dich zu kümmern. Mir war klar, dass sie dich nicht auf eine so teure Schule wie die Montrose Academy schicken würde. Aber ich fand es wichtig. Und auch, wenn du es dort nicht schön fandest, denke ich doch, dass es dich zu dem gemacht hat, was du heute bist – stark und unabhängig.“
Lucy war beim Weiterblättern überwältigt von dem Album. Schließlich stieß sie auf ihre Collegezulassung an der University of Florida. Wieder hob sie ihre Augen. „Du?“
„Das hast du ganz alleine geschafft“, sagte Clare schnell. „Aber vielleicht habe ich ja etwas von den Kosten übernommen.“
„Wie viel?“
Julian antwortete für ihre Großmutter. „Alles.“
Es dauerte einen Moment, bis sie den Kloß in ihrem Hals hinuntergeschluckt hatte. „Und meine Mutter wusste davon?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich habe das Stipendium sehr offiziell und überzeugend aussehen lassen.“
Stille hing im Raum. Lucy legte das Buch beiseite und ging zu Clare. Auf dem Gesicht der Frau stritten Unsicherheit und Angst miteinander.
Lucy umarmte ihre Großmutter und zog sie fest an sich. „Ich liebe dich, Clare.“ Der Schmerz war wie eine alte Patina auf ihrem Herzen, an die sie sich bereits gewöhnt hatte. Doch jetzt war es Zeit, sie loszuwerden. „Ich hätte nie erwartet, dass ich dich
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