Scheinbar verliebt
war, hatte sie drei Kilo zugenommen. Ihr Vermieter hatte sie darüber informiert, dass er mindestens noch eine Woche brauchen würde, um ihre Wohnung wieder herzurichten. Wenn Lucy nicht bald wieder nach Hause käme, würde sie sich neue Kleidung zulegen müssen. Mit Gummiband.
„Hierher, Liebes!“
Lucy folgte Julians Stimme ins Wohnzimmer, blieb aber in der Tür stehen. Er und Clare saßen nebeneinander auf der Couch. Clare barfuß und mit Brille auf der Nase. Und Julian mit einer Schlammmaske und seiner Bibel in Händen. Genau wie Clare. Wieder einmal ein Beweis dafür, dass Parallel-Universen existierten.
„Du kommst aber spät.“ Clare nahm ihre Brille ab. „Wieder lange gearbeitet?“
Der Vorwurf hing in der Luft und vertrieb fast den Duft des köstlichen Abendessens. Lucy wusste, was sie dachten – dass Lucy sie mied. So wie sie Alex gemieden hatte, bis ihre Pflicht sie gerufen hatte. „Ich war mit Marinell im Krankenhaus.“
„Wie geht es Carlos?“, fragte Julian.
„Schlechter. Ihnen läuft die Zeit davon und bis jetzt ist kein Spender in Sicht.“
Marinell wohnte nun wieder bei ihrer Mutter, da die beiden sich ständig an Carlos’ Bett abwechselten. Obwohl ihre Noten mehr als schlecht gewesen waren, hatte Marinell die Sommerkurse bestanden und konnte nun ihrem Bruder ihre volle Aufmerksamkeit schenken.
„Was macht ihr eigentlich hier?“ Lucy betrat den Raum und setzte sich in einen Stuhl mit goldenen Streifen.
„Wir versuchen, in der Bibel zu lesen.“ Julian warf Clare einen frustrierten Blick zu. „Aber sie unterbricht immer wieder und stellt Tausende von Fragen.“
„Wir wollen in einem Jahr das ganze Buch gelesen haben“, warf Clare ein.
Julian verdrehte die Augen. „Aber seit drei Monaten stecken wir im ersten Buch Mose fest.“
„Es ist eben verwirrend“, erwiderte Clare. „Und ich denke an all die Fragen, die ich Jesus einmal stellen will, wenn ich bei ihm im Himmel bin.“
„Wenn es erst so weit ist, nachdem du die Bibel fertig gelesen hast, wirst du hunderte von Jahren alt.“
Lucy lächelte Julian an. Wenn sie hier auszog, würde sie ihn vermissen. „Was verstehst du denn nicht?“, fragte sie schließlich.
„Na dann mal los.“ Julian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.
„Zum Beispiel diese Eva-Frau.“ Clare tippte mit einem burgunderfarbenen Fingernagel auf die Seite. „Sie bekommt immer die Schuld, aber so wie ich es verstanden habe, wurde sie betrogen. Wenn du an ihrer Stelle gewesen wärst, hättest du dich wahrscheinlich genauso von der Schlange überlisten lassen wie sie. Es klang alles so logisch.“
Sätze aus Chucks Predigt erklangen in Lucys Kopf.
„Aber Gott hat ihr und Adam befohlen, nicht von dem Baum zu essen“, warf Lucy ein. „Das war doch sehr deutlich.“
„Aber er hat ihnen nicht gesagt, dass Satan kommen und sie überzeugen würde, etwas anderes zu tun. Er hat Eva dazu gebracht, seine Lügen zu glauben. Verstehst du das nicht?“ Clare krabbelte an den Rand der Couch und starrte Lucy an. „Ich bin Eva.“
Julian schnaubte. „Du meinst wohl eher Methusalem.“
Clare schüttelte ihren weißen Kopf. „Ich habe auch Lügen geglaubt. Ich dachte, mein guter Ruf wäre alles, worauf es ankommt. Der Teufel hat mich davon überzeugt, dass deine Mutter es nur auf unseren guten Namen und unser Geld abgesehen hatte.“
Lucys Finger klammerten sich in den teuren Stoff des Stuhles unter ihr.
„Ich habe nur das Schlechte in ihr gesehen.“ Clare hielt inne, um sicherzugehen, dass Lucy ihr zuhörte. „Und in meinem Sohn nur das Gute. Natürlich hört es sich heute albern an – vor allem aus deiner Sicht. Aber für mich war es damals so wahr wie die Tatsache, dass Rosen rot sind und Schnee kalt ist.“
Die letzten Tage waren auf dieses Gespräch hinausgelaufen. Gott hatte sie langsam auf diesen Moment vorbereitet. Und jetzt, wo er gekommen war, wusste Lucy nicht, was sie sagen sollte.
„Lucy, hast du noch nie Dinge über dich oder andere gedacht, die sich am Ende als falsch erwiesen haben?“
Julian nickte. „Ich habe mal geglaubt, mir würden Paisleymuster stehen.“
„Nun?“ Clare war eine Frau, die es gewöhnt war, Menschen und Situationen zu kontrollieren. Auch im Moment machte sie da keine Ausnahme.
„Doch, habe ich.“ Die Vergangenheit wollte Lucy wieder überwältigen, doch sie hatte die Lügen, die sie geglaubt hatte, ans Kreuz genagelt. Sie waren dort geblieben, damit in ihrem Herzen Frieden herrschen
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