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Scheintot

Scheintot

Titel: Scheintot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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gedrückt wird. Und Anja. Ich sehe Anja regungslos auf dem Rücken liegen, während der Mann, der sie gerade vergewaltigt hat, seinen Reißverschluss zuzieht.
    Anja kommt zu sich, rappelt sich schwankend auf wie ein neugeborenes Kalb. So blass, so dünn, nur der Schatten eines Mädchens.
    Ich folge ihr, folge Anjas Geist. Der Wüstenboden ist mit spitzen Steinen übersät. Dornengestrüpp rankt sich aus der Erde, und Anja läuft darüber, stolpert mit blutigen Füßen dahin, schluchzend, die Freiheit schon dicht vor Augen, wie sie glaubt.
    »Mila?«
    Ich höre Anjas panisches Keuchen, sehe ihr blondes Haar um ihre Schultern wallen. Vor ihr dehnt sich die menschenleere Wüste aus. Wenn sie nur schnell genug läuft, weit genug …
    Der Schuss kracht.
    Ich sehe sie vornüberstürzen; ihr Atem stockt, und ihr Blut ergießt sich in den warmen Sand. Doch sie rafft sich noch einmal auf und kriecht auf Händen und Knien über die Dornen hinweg, über Steine, scharf wie Glasscherben.
    Der zweite Schuss hallt donnernd durch die Wüste.
    Ich sehe Anja zusammenbrechen, ihre weiße Haut zeichnet sich vor dem braunen Sand ab. War es hier, wo sie gefallen ist? Oder war es dort drüben? Ich bewege mich jetzt im Kreis, suche verzweifelt die richtige Stelle.
Wo bist du, Anja? Wo?
    »Mila, sprechen Sie mit uns.«
    Plötzlich bleibe ich stehen, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Die Frau sagt etwas zu mir; ich kann sie kaum hören. Ich kann nur unentwegt das anstarren, was zu meinen Füßen liegt.
    Die Frau spricht mit sanfter Stimme: »Kommen Sie, Mila. Schauen Sie nicht hin.«
    Aber ich kann mich nicht rühren. Ich stehe wie angewurzelt da, während die beiden Männer in die Hocke gehen, während einer von ihnen Handschuhe anzieht und den Sand wegwischt, bis lederartige Rippen und die braune Wölbung eines Schädels zum Vorschein kommen.
    »Scheint sich um eine weibliche Leiche zu handeln«, sagt er.
    Eine Zeit lang spricht niemand. Ein heißer Wind wirbelt uns Sand ins Gesicht, es brennt, und ich kneife die Augen zusammen. Als ich sie wieder aufschlage, sehe ich noch mehr von Anjas Überresten aus dem Sand hervorschauen. Die geschwungene Linie ihres Hüftknochens, den braunen Schaft des Oberschenkels. Die Wüste hat beschlossen, sie wieder herzugeben, und nun taucht sie nach und nach aus der Erde auf.
    Manchmal kehren die Verschwundenen zu uns zurück.
    »Kommen Sie, Mila. Gehen wir.«
    Ich blicke zu der Frau auf. Sie steht so aufrecht da, so unerschütterlich. Ihr silbernes Haar glänzt wie der Helm einer Kriegerin. Sie legt den Arm um mich, und zusammen gehen wir zu ihrem Wagen.
     
    »Es ist Zeit, Mila«, sagt die Frau ruhig. »Zeit, mir alles zu erzählen.«
    Wir sitzen an einem Tisch in einem fensterlosen Raum. Mein Blick fällt auf den Schreibblock, der vor ihr auf dem Tisch liegt. Er ist leer, wartet auf die Berührung ihres Stifts. Auf die Worte, die ich bis jetzt nicht auszusprechen gewagt habe.
    »Ich habe Ihnen schon alles gesagt.«
    »Das glaube ich nicht.«
    »Ich habe alle Ihre Fragen beantwortet.«
    »Ja, Sie haben uns schon sehr geholfen. Sie haben uns gegeben, was wir brauchten. Carleton Wynne
wird
ins Gefängnis kommen. Er
wird
dafür bezahlen. Die ganze Welt weiß jetzt, was er getan hat, und das haben wir Ihnen zu verdanken.«
    »Ich weiß nicht, was Sie sonst noch von mir wollen.«
    »Ich will das, was da drin eingesperrt ist.« Sie streckt die Hand über den Tisch aus und tippt sanft auf meine Brust.
    »Ich will die Dinge hören, die Sie sich nicht zu erzählen trauen. Das wird mir helfen zu verstehen, wie diese Leute vorgehen, es wird mir helfen, sie zu bekämpfen. Es wird mir helfen, noch mehr Mädchen wie Sie zu retten. Sie
müssen
es tun, Mila.«
    Ich blinzle die Tränen weg. »Sonst werden Sie mich zurückschicken.«
    »Nein. Nein.« Sie beugt sich weiter vor, und ihre Augen sind voller Mitgefühl. »Das hier ist jetzt Ihre Heimat – wenn Sie bleiben möchten. Sie werden nicht abgeschoben. Ich gebe Ihnen mein Wort.«
    »Auch wenn …« Ich stocke. Ich kann ihr nicht länger in die Augen sehen. Die Schamröte schießt mir ins Gesicht, und ich starre auf die Tischplatte hinunter.
    »Nichts von dem, was passiert ist, war Ihre Schuld. Was immer diese Männer Ihnen angetan haben – was auch immer sie von Ihnen verlangt haben –, sie haben Sie dazu gezwungen. Das haben sie Ihrem Körper angetan. Es hat nichts mit Ihrer Seele zu tun. Ihre Seele, Mila, ist immer noch rein.«
    Ich kann es nicht ertragen,

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