Scherben
gleichzeitig Körper und Seele bin, gleichzeitig in der Realität und in der Fantasie lebe? Wie kann es sein, dass die kleinsten Einheiten des Lichts sowohl Wellen wie auch Partikel sind, je nachdem, wie man sie betrachtet? Wo ist die Logik? Wo ist der gesunde Menschenverstand? Wie soll ich das interpretieren?
Mati , du würdest mich umbringen, aber ich trinke. Du hast keine Ahnung, wie viel ich trinke!
Ich habe eine Waffe, mati , eine Damenpistole aus Chrom und Stahl. Ich habe sie jemandem bei einer Halloween-Party im letzten Jahr aus dem Schlafzimmer gestohlen, sie lag unter einem Kissen mit Leopardenmuster, das voller Schuppen war. Ich war Pinhead aus dem Ramones-Song.Sie liegt in meinem Bücherregal, direkt hinter der Gesamtausgabe von Majakowski, eingewickelt in einen Lappen. Eric weiß nichts davon. Es sind Kugeln drin, sechs, aber nur die erste zählt, nicht wahr? Tut mir leid, dass ich dir in dieser Hinsicht so ähnlich bin.
Worin ähnele ich meinem Vater? Habe ich seinen Humor? Seine Fähigkeit zur Verdrängung? Was, mati?
Ich liebe ein Mädchen. Melissa. Ihr Haar fließt wie Honig. In der Sonne leuchtet es orange. Und sie liebt mich, mati . Sie ist Amerikanerin. Sie geht in die Kirche. Sie trägt ein Kreuz genau da, wo ihre Sommersprossen in ihrem Dekolletee verschwinden. Sie arbeitet ehrenamtlich. Sie braucht vierzig Minuten, um Rühreier bei ganz niedriger Temperatur zu braten, aber wenn sie fertig sind, explodieren sie im Mund wie ein Feuerwerk, das gehaltvolle Eigelb und das grobe Salz und der gestampfte Pfeffer und der scharfe geschmolzene Cheddar und etwas, das Thymian heißt. Sie ist scharfsinnig. Sie fährt wie eine Irre. Sie kann herzlich sein und unterkühlt, und es lohnt sich schon in ihrer Nähe zu sein, nur um herauszufinden, was es diesmal ist.
Ich habe kein Heimweh, mati . Ich bin die ganze Zeit daheim. In der Vergangenheit. In der Fiktion.
Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
Januar 1999
Da ist noch mehr, das ich dir nicht sagen kann, mati .
Ich habe Melissa gefragt, ob sie mich heiraten will. Natürlich nicht jetzt. Irgendwann mal. Ihre Freunde hassen mich dafür. Sie glauben, sie sei zu jung, sollte erst mal ein wildes und verrücktes Leben leben, Bier trinken, experimentieren. Und dass ich zu alt und zu ernst bin, dass ich zu viel trinke und zu viel Mayonnaise esse. Wenn sie wüssten .
Ich werde zum Amerikaner, mati. Niemand nennt mich mehr Ismet. Eric hat mir einen neuen Namen verpasst, einen Rock’n’Roll-Namen. Izzy. Er hat mir Nachhilfe in amerikanischer Kultur gegeben, er hat mir geholfen, mich zu integrieren. Er ist ein wandelndes Lexikon, und er weiß, welche Bücher ich lesen, welche Fernsehsendungen ich sehen und welche Alben ich auswendig kennen muss. In der Nacht, in der ich einundzwanzig wurde, sprangen wir um Mitternacht über die Grundstücksmauer und latschten über ein verlassenes Gelände bis runter zum 7-Eleven auf dem Thousand Oaks Boulevard. Ich stellte ein Sixpack Becks auf den Tresen, und der Verkäufer merkte nicht mal, dass ich Geburtstag hatte. Er zog einfach nur meinen Führerschein durch die Maschine und sagte, was es kostete. Eric und ich gingen wieder nach Hause, zündeten ein paar dicke Kerzen an, und er spieltemir Tom Waits vor. Ich las die Texte auf der Plattenhülle mit, und in dem Moment, mati , erwachte in Izzy die Liebe zu Amerika, zu seiner Traurigkeit und seinem Wahnsinn, seiner Naivität und seiner Weisheit, seiner Größe und seinen unzähligen Winkeln, in denen ein Mensch verschwinden kann.
Ich sehe Eric an. Er liebt seine Freundin, seine Plattensammlung, unsere Riesencouch. Er hasst seine Arbeit, er muss den Tierarzt durchs Valley fahren, damit er sich Röntgenbilder ansehen kann, aber es geht, er kriegt das hin. Während er auf den Parkplätzen der Kliniken auf seinen Chef wartet, rockt er oder schreibt oder liest. Er raucht wie ein Schlot (abwechselnd normale und Menthol) und macht sich sein Sandwich auf der Motorhaube warm. Er liebt es, Mix-CDs zusammenstellen, scheinbar gegensätzliche Künstler zu einem einzigartigen und stimmigen Ganzen zu verschmelzen. Er steht total auf Faulkner, er hat eine riesige Karte von Faulkners imaginärem County gezeichnet und gleich mehrere Stammbäume seiner Figuren. Er liest diese Geschichten so, dass sich das alles in etwas Reales verwandelt. Er liebt seinen Fernseher und seine Platten und fast alles auf den VHS-Kassetten, mit denen der Lagerraum über der Garage vollgestopft ist. Er liebt seine
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