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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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entscheidungsschwachen Vater alleine sein würde und heckte einen Plan aus.
    Ein paar Jahre zuvor hatte mein Cousin Adi einen entzündeten Blinddarm gehabt, der entfernt werden musste. Wegen der Operation, die Komplikationen zur Folge hatte, musste er in dem Jahr keine Abschlussprüfung machen, wurde aber trotzdem versetzt. Die Idee war, dass ich mich von ihm über die Symptome einer Blinddarmentzündung aufklären ließ und sie anschließend vor meinem Vater simulierte, in der Hoffnung, unters Messer zu kommen. Im Lexikon stand, der Blinddarm sei ein schmaler, geschlossener Schlauch, der an der Stelle mit dem Dickdarm verbunden ist, wo dieser auf den Dünndarm stößt.
    Ich hatte kein Problem damit, ihn zu opfern.
    Nicht nur mein Vater nahm mir meine Show ab, sondern auch die Ärzte in der Notaufnahme. Ich gab mir die allergrößte Mühe, nicht wie ein Amateur sämtliche Symptome herunterzurattern. Ich suchte mir ein paar geeignete aus und erwähnte sie beiläufig. Kein sinnloses Krümmen und keine Schmerzensschreie. Ich blieb cool.
    Es funktionierte. Als sie mich in einen Operationskittel steckten und mich über die beruhigend mintfarbenen, sauber geschrubbten Fliesenböden führten, bekam ich kalte Füße, aber da war es zu spät. Der Anästhesist erzählte mir einen Witz und beförderte mich noch vor der Pointe ins Reich der Träume. Wenn ich die Geschichte erzähle, übertreibe ich oft und behaupte, mein letzter Gedanke sei Scheiße! gewesen. Wie gesagt: eine Übertreibung.
    Ich träumte, ein zerklüfteter Felsen direkt unter der Wasseroberfläche habe mein Schlauchboot aufgeschlitzt, und ich sei kurz davor, in der Tiefe zu versinken, in der sich dunkle Gestalten tummelten.
    Inmitten eines Durcheinanders aus quietschenden Rädern, plappernden Menschen, Scheuerpulver, Jod und entsetzlichen Schmerzen kam ich wieder zu mir. Ich wurde in ein Zimmer geschoben und in ein Bett verfrachtet. Bei demJungen im Nachbarbett hatte es Komplikationen gegeben, weshalb er aufgedeckt dalag und ich zusehen konnte, wie aus einem Schlauch gelber Eiter in einen Plastikbehälter tropfte. Er sah elend aus. Das Mädchen auf der anderen Seite war kahlgeschoren. Sie hatte Läuse, unter anderem.
    Ich erinnere mich an die Geräusche des Hungers, die mein Magen von sich gab, als alle außer mir und der Eiterjunge etwas zu essen bekamen. Ich erinnere mich an seinen Haarschnitt (ein bisschen wie der von Hitler) und daran, dass die Flüssigglukose zum Mittagessen ebenfalls durch einen Schlauch in meine Vene floss. Meine Mutter kam früher als geplant aus Mazedonien zurück und ließ ihre Schwesternbeziehungen spielen, damit sie mich außerhalb der Besuchszeiten besuchen durfte. Anscheinend nahm auch sie mir meine Vorstellung ab.
    Sie saß gerade bei mir, als mein Arzt ins Zimmer trat. Er hatte glänzend ölige Haut, einen unrasierten Hals und einen Schnurrbart, der aussah wie ein Schokoriegel – man hätte ihn eher für einen Metzger gehalten. Er erklärte uns, ich hätte großes Glück gehabt, denn wenn ich nicht ins Krankenhaus gekommen wäre, wäre ich gestorben. Die Entzündung des Blinddarms sei bereits so fortgeschritten gewesen, dass er völlig vereitert und kurz vor dem Platzen gewesen sei. Dann holte er ein Glas mit gelber Flüssigkeit hervor, in der etwas lag, das nach einem dicken Stück faulig roter Lakritze aussah, verdreht und gekringelt.
    Der größte, den ich je gesehen habe , sagte er. Einschließlich der Erwachsenen .
    Um eines klarzustellen: Ich hatte keinerlei Schmerzen verspürt, nicht eine Sekunde lang. Was also war passiert?
    Es gab mehrere Möglichkeiten: Der Arzt fand einen vollkommen normalen Blinddarm, merkte, dass ich gelogen hatte und beschloss, mir einen Streich zu spielen. Oder ich hatte mich so sehr in die Rolle des Jungen mit Blinddarmentzündung hineingesteigert, dass sich mein Blinddarm psychosomatisch entzündete. Oder Gott hatte mir über einen Umweg zu verstehen gegeben, dass ich operiert werden musste, da mir mein Körper auf dem üblichen Weg keine Warnung sandte.
    Was also war passiert?
    Eine Erkenntnis: Es gibt nicht nur eine Lösung. Alles ist offen für Interpretationen. Es geht immer darum, was der Autor mit diesem oder jenem gemeint hat .
    Nach nur sechs Tagen schickte mich meine Mutter wieder in die Schule. Ich nahm an der Abschlussprüfung teil und bekam eine drei.

(… bakterien …)

    Mustafa krabbelte durch die Wohnung und tat, als wäre er ein Tiefseetaucher, einer wie der, den er bei

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