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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Survival gesehen hatte. Er trug eine Schweißerbrille und hatte sich mit Klebeband eine rote Thermoskanne als Sauerstoffflasche auf den Rücken geklebt. Dazu fuchtelte er mit einem Lineal herum, seiner Harpune, mit der er auf alles Mögliche in der Wohnung schoss, während er tiefe, kehlige Geräusche ausstieß, wie bei einer Unterwasserschlacht mit Meeresungeheuern.
    Auf der Jagd nach einem besonders gefährlichen und schwer zu erwischenden Hammerhai rollte Mustafa in den Flur und hörte, dass im Wohnzimmer über Keime gesprochen wurde. Seine Mutter hatte einen Gast, diesen Arzt, der so komisch redete. Mustafa hatte sie gesagt, er solle nicht stören. Vorhin hatte der Arzt ihm Schokolade geschenkt, die er mit drei Riesenbissen vertilgt hatte. Jetzt sah Mustafa den Arzt auf dem Sofa sitzen; er hielt seine Brille in der Hand und lutschte bedeutungsvoll an einem der Plastikbügel.
    »Kinder von Ärzten leiden oft an Verminophobie.«
    »Nennt man das so?«, fragte seine Mutter. Von dort, wo er lag, konnte Mustafa nur ihren nackten Fuß unter dem Wohnzimmertischchen sehen. Er wippte leicht, manchmal berührte er dabei das Schienbein des Arztes, doch dann schob der Arzt sein Bein näherheran, so dass der Fuß daran ruhte und das Wippen einstellte.
    »Verminophobie ist die unbegründete Angst vor Bakterien, ja.«
    Mustafa glaubte nicht an Bakterien. Das Kleinste, was er je gesehen hatte, war ein Sandkorn auf einer Serviette gewesen, und nichts daran hatte an die vielgliedrigen Kreaturen erinnert, deren Fotos ihm seine Mutter in einem ihrer Bücher gezeigt hatte. Er dachte, wenn Bakterien existierten, dann woanders, im Schmutz, im Schlammwasser oder in Tümpeln, aber nicht hier in der Wohnung. Sonst hätte er ja inzwischen welche sehen müssen, ganz besonders, wenn er auf dem Bauch herumkroch.
    Der Dampfkochtopf zischte wie ein Zug, und seine Mutter sprang auf und rannte in die Küche. Sie entschuldigte sich. Der Arzt zog ein Tuch aus der Tasche und putzte seine Brillengläser; dann sah er Mustafa im Flur. Er lächelte und bedeutete ihm, näher zu kommen.
    »Ein Gentleman belauscht nicht anderer Leute Gespräche«, sagte der Arzt.
    »Ich bin kein Gentleman, ich bin Tiefseetaucher.« Mustafa stand auf.
    Der Mann lachte.
    »Das ist lustig, Herr Tiefseetaucher«, sagte er und setzte seine Brille auf. Mustafa nahm seinerseits die Schweißerbrille ab, weil sie allmählich beschlug, drehte sie herum und ließ sie auf der Stirn ruhen, immer noch mit dem Gummiband um den Schädel. Er kniff die Augen zusammen und musterte den Arzt:
    »Kann ich dir eine Frage stellen?«
    »Darf ich dir eine Frage stellen.«
    »Darf ich dir eine Frage stellen?«
    »Jederzeit, mein Sohn.«
    »Kann man an Bakteriophobie sterben?«
    »Du meinst Verminophobie?«
    »Wenn Leute Angst vor Bakterien haben.« Mustafa sprach das Wort Bakterien mit Skepsis und Verachtung aus.
    »Ich erzähle dir eine Geschichte, wenn du mir versprichst, deiner Mutter nicht zu verraten, dass du sie von mir gehört hast.«
    »Versprochen.«
    »Ein Arzt aus Tuzla trug am Esstisch immer Handschuhe. Wenn er bei sich zu Hause einen Stift fallen ließ, zog er erst Handschuhe über, hob den Stift auf, warf ihn weg, zog die Handschuhe aus, wusch sich die Hände und machte dann eine frische Schachtel Stifte auf. Einmal im Winter sprang sein Wagen nicht an, deshalb musste er mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Der Bus war voll, und er musste stehen. Der Fahrer trat ein bisschen zu heftig aufs Gas, das Fahrzeug machte einen Ruck und der Arzt aus Tuzla verlor das Gleichgewicht, fiel mit dem Kopf gegen eine Sitzkante, verletzte sich schwer und starb wenig später im Krankenhaus an einer Gehirnerschütterung. Aus Angst, die Stange könne mit Gott weiß was für Bakterien verseucht sein, hatte er sich nicht festgehalten. Dieser Arzt … das war mein Bruder.«
    »Heißt das ja ?«

Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
Oktober/November 1998
    Neulich saß ich in der College-Cafeteria und dachte aus heiterem Himmel, sie stünde unter Beschuss. Moorpark College würde bombardiert.
    Völlig umsonst ging ich in Deckung.
    Wie kann es sein, dass sich eine Granate, die vor langer Zeit in Tuzla explodierte, selbst wieder zusammensetzt, rückwärts in die Mündung des Granatwerfers fliegt, aus dem sie gekommen war, erneut abgeschossen wird und mich hier in der Cafeteria des Moorpark-College erreicht? Wie kann es sein, dass ich gleichzeitig in der Vergangenheit und der Gegenwart existiere,

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