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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Absicht, drei Dinge zu tun.
    1. eine Gallone Wasser trinken.
    2. die Pistole loswerden.
    3. sein neues Leben leben.

(… scherben von m …)

    Ich liege auf dem Rücken und starre in den Nachthimmel, suche nach dem Gesicht Gottes. Geschosse zerpflügen den Himmel. Sie hinterlassen Katzenkratzer aus weißem Feuer auf der unendlichen Schwärze. Etwas explodiert. Die Erde bebt.
    Ich murmele alte arabische Wendungen, die keinerlei Bedeutung für mich haben, da ich sie als Kind rein phonetisch gelernt habe.
    Ich habe mich vollgeschissen. Ich habe mich bepisst. Mir ist kalt.
    Ich bete auf die einzige Art, die ich kenne, und umarme mein leeres Gewehr.
    Ich liege auf halber Strecke zwischen den Schützengräben.
    Mustafa war vor Ungewissheit ausgelaugt, vor Verwirrung frustriert. Er schlief ein und schreckte wieder hoch, Träume, Erinnerungen. Er versank in der Vergangenheit, wachte in der Gegenwart auf, träumte von der Zukunft. Oder er versank in der Zukunft, wachte in der Vergangenheit auf und träumte von der Gegenwart. Oder er versank in der Gegenwart, wachte in der Zukunft auf und träumte von der Vergangenheit. So operierte sein Gehirn, seine Vergangenheit fand im Präsens statt und seine Gegenwart war … die Gegenwart war nicht zu erfassen mit so schlichten Konzeptenwie früher und heute. Die Gegenwart war verworren. Sie war zersplittert und durcheinander. In Scherben zerbrochen, pulverisiert, verwirbelt.
    Alles war im Arsch.
    In der Dunkelheit versuchte Mustafa einen Ausdruck zu finden für seinen Schmerz, aber der Schmerz war entsetzlich. Er saß in seiner Kehle, im Kiefer, er saß in seinem Adamsapfel, er hatte sich in seiner Luftröhre verkeilt, und Mustafa keuchte.
    » Ich fick dich zu Scherben! «, schrie eine grelle Männerstimme in der Ferne, sie schien durch Mauern zu dringen, durch die Gänge. Etwas Metallisches klapperte gegen eine Wand und blieb irgendwo auf einem ebenso harten Boden liegen.
    Ein Topf? Ein Tablett?
    »Ich zerbrech dich wie eine Vase! Du zerspringst wie die Büste von Tito!«, schrie die Stimme.
    Mustafa wurde sich anderer Stimmen um ihn herum bewusst, mindestens vier oder fünf waren es, schwache Stimmen, murmelnd, brummend, fluchend in der Dunkelheit.
    Gefangen? Gefängnis?
    Er versuchte das Hier und Jetzt zu verstehen, aber da war nichts, worauf man eine Realität hätte bauen können. Nur Dunkelheit. Es gelang ihm, mit den Fingerspitzen über den Untergrund zu reiben, auf dem er lag, und seinen Schmerz lange genug zu unterdrücken, um zu einer klaren Erkenntnis zu gelangen: Stoff.
    Ein Bett?
    Irgendwo schlugen Türen, kräftige Schritte donnerten, näherten sich der schreienden Stimme, die jetzt nur noch ein unverständliches Kreischen war, als würde lebendige Dunkelheit in Stücke gerissen. Körper voller Eingeweide und Atem schlugen dumpf aneinander und gegen Oberflächen,sie wimmerten und flehten, verschont zu bleiben. Doch dann erstarb die Stimme, und die kräftigen Schritte entfernten sich, begleitet vom rhythmischen Quietschen eines Rades, das dringend geölt werden musste.
    Eine Karre? Eine Bahre?
    Mustafa roch Menschenscheiße und Zitronenschale und darunter industrielles Bleichmittel, das in seinem Rachen kitzelte und Hustenreiz verursachte. Er fasste Mut und versuchte, sich zu bewegen, um das Gewicht zu prüfen, das ihm auf Brust und Kehle drückte, als neben ihm etwas über den Boden schrammte.
    Ein Stuhlbein?
    Jemand flüsterte einen Namen, der nicht seiner war.
    Eine Frau? Ein Mann?
    Kleidung raschelte von der Bewegung, dann legte sich eine weiche, kühle Hand sanft auf seine feuchte Stirn, und der bloße Gedanke daran, panisch aufzuschreien, ließ Mustafa die Dunkelheit um sich herum gegen eine andere tauschen.

    Obwohl er sich schämte und ihm das Fiasko mit der Biene peinlich war, sagte er ja.
    Mustafa sagte ja, weil sie süß war, zierlich und kokett. Weil sie Doc Martens und zerrissene Jeans trug und er irgendwie verknallt in sie war. Weil er glaubte, dass sie vielleicht lange zusammen sein würden.
    Blödsinn. Er sagte ja, weil man in dem Alter niemals nein zu jemandem sagte, der einen möglicherweise eines Tages mal entjungfert.
    Als sie ihm zublinzelte und sagte komm, wir gehen, sagte er ja. Sie sagte, ja, was? Und er sagte ja, gehen wir. Sie knutschten bis zehn Minuten vor Beginn der Ausgangssperre im taufeuchten Gras vor dem Haus, in dem sie wohnte. Sie schenkte ihm ein selbstgemachtes Armband, das sie immer getragen hatte undfragte: Weißt du, was das ist?

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