Scherben
besondere Art, schlechte Nachrichten zu übermitteln.
Ich höre die Nachricht noch einmal ab.
» Mati .«
Nach einigem Hin und Her komme ich zu dem Schluss, dass sie mich nur wissen lassen wollte, dass sie angerufen hat.
Jemand klopft, und mir wird bewusst, dass da draußen Musik läuft, dass sich Leute unterhalten. Wie lange läuft die Party schon?
»Herein.«
Es ist Ben mit einem Plastikbecher voll Wein.
»Ich wusste, dass du dich hier in Selbstmitleid suhlst.«
»Hab nur meine Nachrichten abgehört.«
»Reiß dich zusammen und komm raus.«
Ben und Jen veranstalten zwanglose, aber stilvolle Partys für ihre Kollegen. Sie arbeiten bei einem Institut für Ozeanographie in La Jolla; Jen ist in der Verwaltung, Ben taucht und schneidet den Tang von überwucherten Ozeanographieinstrumenten. Das Ergebnis ist ein Haus voller schlauer, sportiver und naturwissenschaftlich begabter Menschen mit Flip-Flops und Sand zwischen den Zehen, die teuren Zinfandel und Riesling aus Kaffeebechern trinken, sich zu äthiopischem Jazz wiegen, eloquent über alles unter der Sonne diskutieren, sich an ihren wohlgeformten und gebräunten Extremitäten kratzen und überhaupt in jeder gottverdammten Hinsicht so viel besser sind als ich.
Ich trinke noch einen Travesty, tue so, als mache mir meine Andersartigkeit, meine Fremdheit nichts aus, stolpere umher und begaffe die weiblichen Partygäste. Wenn sich unsere Blicke treffen, wenden sie ihren sofort ab, versuchen fieberhaft, einen Fleck von ihren Tanktop-Trägern zu reiben, beginnen ein Gespräch mit dem Nächstbesten, mit dem Kater, mit irgendwem, oder sie gehen weg, um ihre vollen Becher nachzufüllen oder ihre leeren Blasen zu entleeren.
»Hallo.« Ich gehe beim letzten Klingeln ran, bevor die Maschine anspringt, trete die Tür zu und lasse den Lärm draußen.
Es ist mein Vater, ernst und irgendwie genervt. Er fragt, wie es mir geht, ob ich gesund bin. Ich weiß sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich frage, was los ist.
»Deine Mutter ist im Krankenhaus.«
»Was?«
»Sie mussten ihr den Magen auspumpen.«
Er rückt nie direkt mit der Sprache raus und sagt, was los ist.
»Tabletten?«
»Ja. Und dieses Mal hat sie sich auch noch die Pulsadern aufgeschnitten.«
Ein Mädchen gackert im Wohnzimmer. Sie schmeißt sich weg vor Lachen.
Er redet weiter. Ich kann ihn nicht ausstehen. Er redet, als wäre er das Opfer.
Ich will ihn erstechen, verbrennen.
»Sie sagt, sie hat’s in der Badewanne in der Nacht gemacht, aber Mehmed hat sie mittags in ihrem Bett gefunden, angezogen.«
»Dann ist sie jetzt über den Berg?«, presse ich durch die Zähne.
»Sie haben sie ruhiggestellt.«
Ich sage nichts. Ich kann nicht.
»Hör zu, ihr geht’s nicht gut –«, fängt er an, und ich lege auf.
Ich gehe zum Spiegel. Ich will sehen, wie ich jetzt gerade aussehe. Direkt vor meinem Zimmer grölen ein paar Frauen ausgelassen, dass Mädchen nur Spaß haben wollen. Mein Gesicht ist verzerrt. Ich sehe aus wie ein Tier.
Das Telefon klingelt. Ich sitze auf der Bettkante.
Melissas alter Schreibtisch. Ein Bild von meinen Eltern. Vaters säuerliches Lächeln. Mutters irre Augen.
Das Telefon klingelt.
Mein Wecker. Nach eins.
Das Telefon klingelt.
Melissas altes Bücherregal. Der komplette Majakowski.
Das Telefon klingelt und klingelt, und ich sitze es aus.
Ich verlasse mein Zimmer, gehe vorbei an irgendwelchen Gestalten und Menschen.
Es ergibt keinen Sinn. Wenn sie sich heißes Wasser eingelassen, Tabletten genommen und sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, dann war das kein Schrei um Hilfe. Das war ein dreifach abgesicherter Plan.
Ich gehe ins Büro und starre auf das Bild eines Jaguars im Greenpeace-Kalender. Jemand kommt herein, fängt an zu reden, und ich ziehe mich zurück in die Dunkelheit von Ben und Jens Zimmer. Durchs Fenster sehe ich jemanden, wahrscheinlich eine Nachbarin, sie guckt, ob sie beobachtet wird, dann beugt sie sich über unser Gartentor und nimmt eine von Bens Topfpflanzen, eine Orchidee, und ist schon wieder weg.
Die Szene spult sich in meinem Kopf ab: meine Mutter, nackt im Badezimmer, sie zerdrückt Schlaftabletten mit einem Löffel auf der Waschmaschine, sie presst mit dem Daumen, zermalmt sie zu Pulver. Oder war sie so gut vorbereitet, dass sie ein Schneidebrett mitgenommen hat? Wahrscheinlich. Ich sehe, wie sie das Pulver mit der Hand vom Schneidebrett in ein Glas Wasser fegt und mit dem Löffel umrührt. Die Flüssigkeit ist jetzt weiß, milchig. Sie murmelt
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