Scherben
Entschlossenheit, mit der die Menschen am Leben hängen, um noch ein gutes Jahr zu haben, noch eine gute Minute.
Als ich in der Mississippi Street vor unserem Haus halte, lädt mein Mitbewohner Ben gerade ein Boot von seinem Truck. Er trägt sein schäbiges Unterhemd und stellt seinen Auslegerkanuten-Trizeps zur Schau.
»Bist du bereit für die Party?«, fragt er.
»Schon wieder? Wo ist Jen?«
»Schreibt eine Einkaufsliste. Hör mal, vielleicht kannst du dein Zimmer ein bisschen aufräumen? Es kommen auch ein paar Scripps-Leute.«
»Ich mach die Tür zu.«
»Ach, komm schon, Mann, ich stell dich einer Ozeanographin vor.«
»Klar«, sage ich und gehe ins Haus.
Mein Zimmer ist ein finsteres Loch, eine kleine vollgemüllte Höhle. Ich schiebe und trete meinen Rucksack und alles andere unter das Bettgestell, dann hieve ich meine Matratze vom Boden und hinterlasse ein fast weißes Rechteck auf einem ansonsten beigefarbenen Teppich. Panisch huscht eine Kakerlake hinter Melissas alten Schreibtisch.
Ich starre auf den Farbunterschied und fange an zu weinen.
»Schnaps aus einem Bierhumpen?«, fragt Ben, als er mich in flagranti in der Küche erwischt. »Was ist das denn? Popov mit Gatorade?«
»Ich nenne es Piss Galore.«
»Warum nicht Bosnian Travesty?«
Ich mache mir noch einen, direkt vor seinen Augen, dann gehe ich in mein Zimmer und schließe die Tür. Ich setze mich in die Mitte des Bettes. Es sackt durch, bricht fast zusammen. Ich rutsche Richtung Kissen. Hier kommt es mir stabiler vor. Ich wippe ein bisschen.
Ich sehe mich um. Meine Poster. Meine Bücher. Ihr alter Schreibtisch. Ihr altes Bücherregal. Im Spiegel in der Schranktür dieser kaputte Loser mit Polyesterhemd und rotem Kopf. Er nimmt einen Schluck, aber sein Glas ist schon leer. Er lässt es auf den Teppich fallen.
Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkt. Ich drücke auf den Knopf, die Nachricht ist ein einziges Wort.
» Mati« , sagt meine Mutter, oder besser, sie schreit es und legt auf. Es klingt wie das Miauen einer Katze oder wie ein Heranwachsender im Stimmbruch, der seine Mutter verzweifelt bittet, ihn nicht öffentlich in Verlegenheit zu bringen.
Im Sommer 2003, als ich sie zuletzt besuchte, waren meine Eltern völlig zerstritten und standen kurz vor der Trennung. Vater war Vorstand der Putzmittelfirma geworden und verdiente viel Geld, was sich negativ auf seinen Charakter auswirkte. Er hatte ein neues Wochenendhaus auf dem Berg Konjuh gekauft, und meine Mutter fuhr oft alleine dorthin, während er und Mehmed in Tuzla blieben. Sie kam mit den ständigen Streitereien und den Anrufen unbekannter Frauen, die behaupteten, ihr Mann betrüge sie, nicht mehr klar. Vater leugnete jeglichen Fehltritt und äußerte sich besorgt, mit kalten und höflichen Worten, über den Zustand ihrer geistigen Gesundheit. Mehmed saß hauptsächlich in seinemZimmer am Computer und wollte mit uns allen nichts zu tun haben.
Eines Abends in jenem Sommer, im neuen Wochenendhaus, hatte ich einen Traum. Auf unserem Sofa saß eine schwarze Katze und wuchs, bis sie allmählich eine menschliche Gestalt annahm. Sie begann zu miauen und starrte mich an. Das war alles. Die Katze oder der Mensch miaute. Ich wachte auf, aber das Miauen hörte auch im Wachzustand nicht auf. Ich brauchte eine Weile, um zwischen den Echos der Laute aus dem Traum und den miau-artigen Rufen draußen vor dem Haus zu unterscheiden. Kaum wahrnehmbar hörte ich etwas, das klang, als würde mein Name gerufen.
Ich stand auf und ging hinaus in den kühlen Morgen. Vater war weg; der Wagen stand nicht da.
»Ismet«, rief meine Mutter, und an dem seltsam hohlen Echo erkannte ich, dass die Rufe aus dem Brunnen kamen, der weiter unten, auf halber Höhe des Abhangs war. Ich rannte hin, und da war sie, vollständig bekleidet im kalten Wasser, das ihr bis zum Hals ging. Bleich und zu Tode erschrocken hielt sie sich an der unbezwingbaren Zementwand fest. Ich holte eine quietschende Leiter aus dem Schuppen und ließ sie hinunter; zitternd kletterte sie heraus. Nach einer heißen Dusche lachte sie aus einem Bündel Decken heraus und sagte, dass es doch saukomisch gewesen wäre, bei so einem blöden Unfall zu sterben, nachdem sie den Krieg überlebt hatte und die Krankheiten und Selbstmordversuche.
Ich frage mich, warum ich mich gerade jetzt daran erinnere. Weil ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter mich an das Miauen einer Katze erinnert hat? Oder ist es eine Warnung, stimmt etwas nicht? Sie hat eine
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