Scherben
derselben Betonung. Mustafa spähte durch das Gitter seiner Wimpern aus seinem linken Auge, ließ einzelne weiße Lichtstrahlen hinein, einige davon waren mit Mintgrün versetzt. Immer noch viel zu viel Licht. Er wechselte auf das rechte Auge, versuchte beide daran zu gewöhnen.
»Es hieß dann, dass er wegen des Krieges durchgedreht ist. Als wäre der Krieg an allem schuld. Das Kind ist schlecht in der Schule, der Krieg ist schuld. Jemand betrügt seine Alte mit der Nachbarin, der Krieg ist schuld. Die Tochter wird lesbisch, der Krieg ist schuld. Schwachsinn.«
Mustafa schlug die Augen auf und sah, dass er sich in einem Krankenhauszimmer befand, was das Bleichmittel, die Zitrone und die Scheiße erklärte. Außerdem die gedämpftenStimmen, das Stöhnen und das Fluchen. Es erklärte das weiße Licht und die blassen, mintgrünen Wände. Der Gips, der von der Hüfte bis zum Kinn reichte, erklärte, warum er sich nicht bewegen konnte und Schmerzen hatte, und der schwere Verband um seinen Hals ließ vermuten, dass das Brennen in seiner Kehle und das Wummern in seinem Kiefer nicht von ungefähr kamen. Ihm gegenüber saß ein fast kahlköpfiger Mann, der aussah wie ein Bussard. Ihre Blicke trafen sich, und der Mann lächelte, umnachtet, mit gelben Zähnen. Mustafa kannte sein Gesicht.
»Guten Morgen, Herr Nachbar. Endlich Publikum«, sagte er. »Von den anderen Wichsern hier ist kaum noch was übrig.«
Die irre Freude im Blick seines Nachbarn, seine hüpfenden Augenbrauen, die wie eine haarige zweigliedrige Raupe auf seiner Slawenstirn saßen, und die Riemen, mit denen er ans Bett gebunden war, gaben Mustafa einen Hinweis darauf, in welcher Art Krankenhaus er gerade erwacht war.
»Wo war ich stehengeblieben? Ach ja. Also … jedes Mal, wenn der Beschuss endet, kommen die Kinder raus und suchen Splitter. Als würden sie Murmeln sammeln oder so. Sie laufen mit den Dingern rum … säckeweise Splitter, die sie vergleichen und tauschen, was man so macht. Aber dieser Junge, Donut, ist fanatisch. Er glaubt, er kann eine Granate bauen, indem er die Splitter wieder zusammensetzt. Irre!«
Mustafa sah sich um und zählte sieben weitere Betten, belegt mit älteren Männern, die auf der Seite lagen, ihre Gesichter schmerzverzerrt, verbraucht, aufgedunsen im medikamentös herbeigeführten Schlummer. Der Tag draußen vor dem Fenster war grau, Baumwipfel zitterten in ihren spärlichen Unterkleidern.
»Ich sitze also eines Tages auf der Treppe und höre Donut und einen anderen Jungen streiten … über, genau, wer den größten Splitter hat, wer den mit der seltsamsten Form undso weiter und so fort, und dann kommt die Oma aus dem ersten Stock, wie heißt die noch? Äh … Mist … Frau Abdić! Genau! Jedenfalls, sie ist auf ihrem Balkon, ganz entspannt, sie hört die beiden und meint: Das ist noch gar nichts. In meinem Wohnzimmer ist einer, der ist so groß.«
Der Mann wollte zeigen, wie groß der Splitter angeblich war, merkte aber, dass seine Hände ans Bett gefesselt waren. Er lächelte verlegen. Da erst fielen Mustafa die Blutergüsse an seiner Wange auf.
»Ich denke, die Oma ist vermutlich senil, so große Splitter gibt’s überhaupt nicht, selbst wenn’s ein scheiß Tomahawk ist oder sonst was. Donut kreischt, er will ihn sehen. Ob er ihn sich ansehen darf, bitte bitte? Die Oma sagt, na klar, komm hoch. Ich denke, den Scheiß gucke ich mir lieber selbst an. Ich kenne den Jungen und weiß, dass er vielleicht was Schlimmes macht und ich will nicht, dass die arme Frau deshalb einen Anfall kriegt. Also warte ich ein paar Sekunden und renne die Treppe rauf, hinter ihm her. Und dann, das hättest du sehen sollen! Mitten auf dem Sofa steckt eine ganze verdammte Granate und guckt halb aus dem Polster raus! Eine ganze verdammte, nicht explodierte Mörsergranate!«
Etwas schabt in Mustafas Kopf und er …
Wir sind hier.
Alle im Dorf sind tot, aufgestapelt.
Ich schlucke und unterdrücke es und schlucke und unterdrücke es.
Ich kann es nicht mehr unterdrücken. Ich schluck …
»Die hatte den Herd getroffen und eingedellt, ist aber nicht explodiert, sondern abgeprallt und dann rein ins Sofa. Die Oma meinte: Das Ding kam vor ein paar Nächten durchs Fenster und ist an den Herd geknallt, jetzt sieh dir das mal an. Ich hab versucht, sie rauszukriegen, hab mit dem Hammer draufgehauen. Aber sie bewegt sich nicht von der Stelle.«
Die Augen des Mannes werden immer größer.
»Kannst du dir vorstellen, wie fertig ich war? Vor mir
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