Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
Vom Netzwerk:
Familie, sie telefonieren jeden Tag; er fährt immerfort bei ihnen vorbei. Abends hängen wir rum und suchen Titten im Kabelfernsehen, und jedes Mal, wenn er zum Rauchen auf den Balkon geht oder ins Bad zum Pinkeln, rufe ich SEXSZENE, und er kommt ins Wohnzimmer gerannt.
    Auch ich lebe dieses Leben, von Tag zu Tag, aber du verfolgst mich, mati . Ich habe zu allem zwei Ansichten. A-Seite (amerikanisch) und B-Seite (bosnisch). Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, spurlos zu verschwindenund mich zurückzulassen, meinen Geist, und dann neu anzufangen. Ich träume davon, mich in Luft aufzulösen, alle Bindungen zu kappen, obdachlos zu werden, völlig frei. Ich wäre ruhiger, glücklicher. Oder besser noch, nach Bosnien zurückzukehren, ohne es jemandem zu sagen, nicht einmal dir. Einfach nur dort in derselben Stadt zu leben, mir einen Bart stehen zu lassen und dir hinter einer Sonnenbrille von einem Café auf der anderen Straßenseite aus zuzusehen, wie du zum Markt gehst. Ohne dir je zu sagen, wer ich bin.

(… vorahnungen …)
    Herbst 1990. Meine Mutter sagte:
    »Es wird Krieg geben.«
    Im Fernsehen schrie ein Fettsack im Anzug in ein Mikrophon und fuchtelte mit seinem Wurstfinger in der Luft herum. Die Menge vor ihm brüllte, hielt gerahmte Fotos von ihm hoch und zündete Kerzen an. Meine Mutter wiederholte geistesabwesend ihren Satz und starrte die Ecke des Wohnzimmertischchens an, auf dem meze standen. Mein Vater lachte, kaute geräuchertes Rindfleisch und sagte, dass alles nur Gerede sei und die Leute nicht so dumm wären.
    Er schenkte sich noch einen Sliwowitz ein. Der Wellensittich kreischte in seinem Käfig und pickte an seinem Schulp. Mutter starrte einfach weiter.
    Als sie schlafen gegangen war, sagte er zu mir:
    »Hör nicht auf sie, sie ist paranoid. Das kommt von der Gehirnerschütterung.«
    Einen Monat zuvor war sie vor unserem Haus auf dem Weg zum Laden an der Ecke gegen ein Stoppschild gerannt und in Ohnmacht gefallen. Einen Tag lang hatte sie im Koma gelegen.
    Seither benahm sie sich manchmal … seltsam: Sie sagte seltsame Sachen, starrte stundenlang ins Leere, putzte wie eine Besessene. Mehmed und ich hatten Angst um sie. Vater behauptete, alles würde gut werden.
    Aber nichts wurde gut.
    Die Menschen waren so dumm.
    Es gab Krieg.
    Irgendwann in den Achtzigern ließ sich mein Vater nach einer groß angelegten Nörgelattacke seiner Mutter und seiner Schwester, die es selbst nicht machen wollten, überreden, einen belastenden Bankkredit aufzunehmen und am Rand von Tuzla ein Stück Land zu kaufen, um dort ein Wochenendhaus zu bauen, so wie die meisten seiner Freunde. Er war berüchtigt für seine Unentschlossenheit und dafür, dass er stets bis zum letzten Augenblick wartete, immer die falsche Entscheidung traf und anschließend jahrelang betrunken lamentierte: hätte ich nur, hätte ich nur nicht, wäre ich nur schlau gewesen, hätte ich nur gewusst, was ich jetzt weiß . Bar jeder Fantasie oder Kreativität hielt er sich für einen Anhänger einer Philosophie, die hier am besten durch den Rat auf den Punkt gebracht wird, den er mir Jahre später, kurz vor meiner Flucht aus Bosnien, gab.
    »Ismet«, sagte er, »wenn du im Leben mal nicht weißt, was du machen sollst, dann sieh dir an, was die anderen machen und mach dasselbe.«
    Nachdem er sich monatelang ein ums andere Mal für ein Grundstück interessiert und es sich dann doch anders überlegt hatte, entschied er sich irgendwann für ein grünes Stück Land in Kovačevo Selo, einem vorwiegend christlich-orthodoxen Dorf ungefähr fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt. Er kaufte es von Drago Stojković, einem reichen Landwirt, der mit seinem Clan in einem Anwesen auf einem Hügel lebte, von dem aus er seinen gesamten Grundbesitz überblickte. Um zu unserem Land zu gelangen, mussten wir durch unwegsames Gelände: zuerst mit nervenaufreibenden vierzig Stundenkilometern über eine schwankende Brücke, die in der Mitte wie eine Hängematte einsackte und qualvolle Ächzlaute ausstieß, sobald man versuchte, sie langsamer zu überqueren; anschließend über eine kurvenreiche Schotterstraße, die sich zwischen verstreut liegenden Häusern und Scheunen hindurchschlängelte.
    Unser Grundstück war das letzte in einer Reihe von fünf anderen, die bereits abgeschmackte Versuche in ländlicher Idylle aufwiesen: malerische Häuschen in verschiedenen Stadien der Fertigstellung, knallbunte Blumenbeete, absurd weiße Statuen von Schwänen, Löwen und armlosen

Weitere Kostenlose Bücher