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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Abend, nachdem er sich ein paar Schnäpse einverleibt hatte, bereute er natürlich, die Sense zurückgebracht zu haben. Er sagte, er hätte es nicht tun sollen und meine Mutter habe recht, es sei unsere Sense, und am nächsten Wochenende werde er sie behalten.
    Doch auch am nächsten Wochenende brachte er sie Drago zurück. Als er den Hügel runterkam, pfiff er vor sich hin. Er ging an meiner Mutter vorbei, schloss den Schuppen ab und ignorierte ihren zornigen Blick.
    »Du hast gesagt, du bringst sie nicht zurück«, zischte meine Mutter.
    »Was?«
    »Die Sense.«
    »Wann hab ich das gesagt?«
    »Letzte Woche.«
    »Daran kann ich mich nicht erinnern. Bist du sicher?«
    Mutters Hand flog zur Narbe an ihrem Haaransatz. Sie wandte sich von ihm ab, stellte sich an den Stacheldraht und starrte in den Wald, bis er den Wagen vollgeladen hatte. Auf der Rückfahrt nach Tuzla sagte er wieder: »Scheiß auf die Sense«, aber Mutter blieb stumm. Der Keilriemen des Fiat quietschte. Die Luft war zum Atmen zu schwer. Auf dem Rücksitz drückte Mehmed meine Hand. Ich zog sie weg. Vater pfiff durch die Zähne.
    1990 war das Wochenendhaus fertig. Als Letztes wurde eine wunderschöne Außentreppe in die geräumige Dachkammer gebaut, in der ich am liebsten war. Dort hatte ich meine Comic-Sammlung, meine Matratze, meine Poster, einen Fernseher und einen geheimen Vorrat an Süßigkeiten – alles, was ein pummeliger Vierzehnjähriger braucht, um sich im Haus nicht zu langweilen. Draußen war das sowieso unmöglich.
    Eines Vormittags – es war ein Samstag kurz vor Herbstbeginn, und wir warteten auf die Familie meiner Mutter, die das Wochenende mit uns verbringen wollte, was für uns bedeutete, dass ein weiterer Junge, Cousin Adi, da sein würde, mit dem sich etwas anstellen ließ – spielten Mehmed und ich Anschleichen. Ziel war es, hinter einer Ninja-Maske versteckt vom Brunnen auf der einen Seite des Grundstücks durch den Garten, hinter den Himbeersträuchern entlang, ums Haus und den Schuppen herum, am Wagen vorbei, der um diese Jahreszeit wegen der herabfallenden Früchte nicht unter dem Birnbaum parkte, bis zum Tor auf der anderen Seite des Anwesens zu gelangen, ohne von unseren Eltern bemerkt zu werden. Nachdem uns beiden diese bewunderungswürdige Heldentat mehrfach geglückt war, beschlossen wir, das Ganze zu steigern und zu versuchen, ungesehen etwas von drinnen zu holen, die katzenförmige Kerze auf dem Fernseher imErdgeschoss oder einen Pluto-Becher aus der Küche. Das erwies sich als so gut wie unmöglich, weil Vater Tennis schaute und Mutter Teig knetete. Wir wollten gerade die Regeln ein wenig abändern, als alle eintrafen: Großmutter, Onkel Medo, Tante Suada, Adi und seine beiden Schwestern.
    Mein Vater hatte eine nervige Angewohnheit, die ich leider von ihm geerbt habe: Er walzte jeden Scherz so lange aus, bis er nicht mehr lustig war.
    An jenem Tag führte Vater unsere Gäste an unsere brandneue Treppe und machte ihnen weis, er habe sie selbst entworfen. Ich fand das brüllend komisch, weil ich wusste, dass er keine gerade Linie von einer Kurve unterscheiden konnte. Ich hatte mich immer schon gefragt, wie er überhaupt an sein Ingenieursdiplom gekommen war, wahrscheinlich hatte er jemanden dafür bezahlt. Jedenfalls wusste ich mit Sicherheit, dass er sich eine geometrische Form nicht mal vorstellen konnte, ohne sie zuerst mit eigenen Augen gesehen zu haben, egal wie perfekt man sie ihm beschrieb. Deshalb las er auch nie Bücher. Und deshalb hatte Mutter ein Modell des Wochenendhauses bauen und erklären müssen, wo jedes einzelne Möbelstück platziert werden sollte, bevor ihr Vater grünes Licht für die entsprechenden Ausgaben gewährte.
    Die Gäste wussten nicht, dass Vater sie veräppelte, und er blieb dabei, erwähnte beiläufig frei erfundene Architekturstile und nichtexistierende Designer, deren Arbeiten ihn angeblich inspiriert hatten, und dachte sich bescheuerte Fachausdrücke aus, ohne eine Miene zu verziehen. Meine Tante und mein Onkel ahnten, dass etwas nicht stimmte, waren aber zu höflich und zu sehr vom Provinzkommunismus und ihrem Selbstverständnis als Arbeiter geprägt, um die Worte eines Hochschulabsolventen anzuzweifeln. Meine Großmutter glaubte ihm alles und sagte immer wieder »wirklich« und » Mašala« und »gut gut«. Sie vertrauten ihm und respektierten ihn, weil er Ingenieur war, weil seine Familie von den begs und agas der stolzen Ottomanen abstammte, und weil seinem Großvater (wie er mir

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