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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Griechen. Jedes Einzelne war mit Stacheldraht umgeben und wurde von übertrieben engagierten Hunden und deren Besitzern bewacht, die brüllten und mit doppelläufigen Flinten fuchtelten, sobald man es wagte, auch nur eine Pflaume aufzuheben, die von einem ihrer Bäume gefallen war. Unser Fleckchen war ein vierzig mal achtzig Meter großes, von Gräsern und Unkraut überwachsenes Rechteck. Auf einer Seite grenzte es an den Wald, auf der anderen an unheilvoll wuchernde Brombeersträucher, die aussahen, als kämen sie langsam von Dragos Haus den Hügel herunter auf uns zugerollt, und in der Mitte stand der Inbegriff eines Birnbaums – der älteste Baum, den ich je gesehen hatte. Er wirkte vernarbt und knorrig, und seine Blätter und Früchte waren faltig und mit Altersflecken übersät.
    Als Erstes spannte mein Vater Stacheldraht um das gesamte Grundstück, damit es zu denen der Nachbarn passte. Dann wusste er nicht weiter. Zu viele Leute rieten ihm zu vieles: was er bauen sollte, was er nicht bauen sollte, wie er es bauen sollte, falls er es bauen wollte. Einige sprachen sich dafür aus, gar nicht zu bauen. In seinem kleinen, grauen, berechnenden Kopf wusste er nicht, was er machen sollte, also machte er dicht. Er fuhr an den Wochenenden nicht mehr hin, schaute sich stattdessen Sportsendungen im Fernsehen an und machte lange Nachmittagsschläfchen.
    Also blieb es an meiner Mutter hängen.
    Über die Jahre lernten wir die Stojkovićs recht gut kennen. Sie halfen uns, unseren Brunnen zu graben. Wir halfen ihnen, das Gras für ihre Kühe zu mähen, zusammenzurechen und aufzuhäufen. Sie brachten uns Sliwowitz und frischen Hüttenkäse. Mein Vater brachte ihnen Geschenkpakete mit Putzmitteln aus der Fabrik. Wenn sie da waren, luden sie uns zu ihren Partys, Hochzeiten und geselligen Treffen ein. Wir luden sie ein, wenn wir Leute zu Besuch hatten, denen wir zeigen wollten, welche Fortschritte das Haus machte. Alles in allem waren wir richtig gute Nachbarn.
    Mehmed und ich freundeten uns mit Marija und Ostojka an, Dragos Enkelinnen, und spielten den Großteil des Sommers mit ihnen im Wald. Wir sammelten Walderdbeeren, beobachteten die Nattern, die an einem Rinnsal von Bach Kaulquappen jagten, taten so, als wären wir allein in der Wildnis, kletterten auf Bäume, fielen herunter – lauter solche Sachen. Ostojka und ich spielten in einem Kuhstall Zeig-mir-deins-dann-zeig-ich-dir-meins, wobei keiner von uns beiden dem anderen irgendwas zeigte, weil wir uns nicht einigen konnten, wer den Anfang machen sollte.
    Ich behaupte nicht, dass es ein ganz und gar ungetrübtes Verhältnis war. Da gab es zum Beispiel die Affäre um die Sense meines Vaters. Er brachte sie Drago, der sie einem Mann im Dorf bringen wollte, damit der sie schärfe. Wochen und Monate vergingen, ohne dass Drago die Sense zurückbrachte, und mein Vater, wie es so seine Art war, erwähnte sie nicht mehr. Unser Grundstück bekam einen dunklen Schatten, dann sprossen Stoppeln und schließlich ein ausgewachsener kratziger Sozialistenbart. Meine Mutter lag meinem Vater so lange in den Ohren damit, dass sich etwas im Gras verstecken und uns Kinder beißen könnte, bis er sich schließlich mit der Machete einen Weg zum Zaun bahnte, den Hügel hinaufmarschierte und sich bei Drago erkundigte, was aus seiner Sense geworden sei. Drago leugnete, sie überhaupt jemals bekommen zu haben, und fing an zu schreien, als sei er tödlich beleidigt worden, woraufhin Vater ihn beschwichtigte und sogar so weit ging, ihn zu bitten, sich seine, also Dragos Sense für einen Tag borgen zu dürfen, die sich natürlich als unsere herausstellte. Nachdem meine Mutter – die fast alle körperlichen Arbeiten erledigte, weil mein Vater angeblich Rückenprobleme hatte, tatsächlich aber einfach zu faul war – das Grundstück auf Vordermann gebracht hatte, gab mein Vater seine eigene Sense wieder bei Drago ab.
    »Warum hast du das gemacht?«, fragte ihn meine Mutter hinterher. »Das ist unsere Sense.«
    »Es ist bloß eine Sense. Scheiß auf die Sense. Deswegen bricht man keinen Krieg vom Zaun.«
    Doch man sah ihm an, dass er sich ärgerte. Seine ohnehin schon schmalen Lippen verschwanden nun völlig, er blickte zur Seite und sagte eine Weile gar nichts mehr. Nur seine Krähenfüße gruben sich tiefer ein, als er unter dem Ansturm der Gedanken die Augen zusammenkniff. Meine Mutter rauchte demonstrativ. Mehmed und ich warfen selbstgemachte Ninja-Wurfsterne aus Blech in den Birnbaum.
    Am selben

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