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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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    Im Mai 1999, kurz bevor ich nach Bosnien fliegen sollte, stand ich auf dem Parkplatz einer Ralphs-Filiale in Moorpark, Kalifornien. Eric hatte mich zu früh am Bahnhof abgesetzt, weil er zur Arbeit musste, und ich schlug ein bisschen Zeit tot, bis mein Zug nach San Diego abfuhr. Melissa war vor einiger Zeit dorthin gezogen, und meine Leidensfähigkeit schrumpfte mit jedem Tag ohne sie. Ich lebte nur noch von Wochenende zu Wochenende, wenn ich sie besuchen fuhr oder sie zu mir kam. Jede Sonntagnacht atmete ich traurig ein und erst am Freitagnachmittag voller Freude wieder aus, beides in ihren Armen. Während ich die Luft anhielt, zügelte ich mein Gehirn, indem ich mich mit Worten, Getränken und Tabletten vollstopfte, die andere Menschen geschrieben, destilliert und hergestellt hatten.
    Der Flashback überfiel mich am Bahnhof, ausgelöst vom urplötzlichen Dröhnen eines durchfahrenden Güterzugs. Das Geräusch durchbohrte mich. Ich ging zu Boden. Einen Augenblick lang geschah es wirklich. Ich wurde nicht nach Bosnien zurückversetzt. Der Krieg war zu mir gekommen. Etwas schlug in der Nähe des ummauerten Viertels hinter dem Bahnhofsparkplatz ein. Ich spürte einen Schwall heißer Luft im Gesicht. Trümmer flogen, knallten auf parkende Fahrzeuge. Eine Palme kippte auf einen grünen Chrysler.Ein mexikanischer Junge fiel vom Fahrrad, Rauch verschlang die Sackgasse hinter ihm … und dann war da wieder blauer Himmel, die Autos waberten in der Hitze, der mexikanische Junge fuhr unbesorgt weiter, der Zug verschwand Richtung Simi Valley, und nichts war passiert, absolut gar nichts.
    Ich setzte mich in Richtung der Ralphs-Filiale ein Stückchen die Straße runter in Bewegung. Ich schüttelte unerwünschte Gedanken ab und konzentrierte mich auf meine Turnschuhe, die vor mir hergingen, mich weitertrugen. Ich spürte den Asphalt angenehm eben unter meinen Sohlen, ich stellte mir vor, wie mein Fußgelenk während des Gehens funktionierte, das Schieben und Ziehen, Drücken und Entspannen, den ganzen Mechanismus. Doch dann rückten die Gedanken wieder heran (ich hörte ihr Summen, dann ihr Murmeln in meinem Kopf), und ich versuchte mich panisch zu erinnern, wo ich die Turnschuhe gekauft hatte, und als mir wieder einfiel, wie viel sie gekostet hatten, und welchen ich heute Morgen zuerst angezogen hatte, was leicht war, weil ich ein Gewohnheitstier bin, und scheiße, da lag ein Kinderfuß im Rinnstein, ein Rinnsal Blut und eine verschmierte zerrissene Socke mit dem Adidas-Logo, wo einmal der Knöchel des Kindes gewesen war, dessen Mechanismus nicht mehr intakt war, und mein Herz spielte ein Schlagzeugsolo ohne Beat, nur endlose Trommelwirbel, von der Snaredrum zur Timpani, von der Timpani zurück zur Snare und zwischendurch ein eisiges Becken und eine finstere, manische Bassdrum, ein Klang wie Granatfeuer.
    Und dann war ringsherum Bosnien, und ich ging zu Boden. Schloss die Augen, bedeckte den Kopf. Betete. Inbrünstig.
    Eine Pennerin holte mich in die Realität zurück.
    »Wach auf!«, schrie sie. »Ich steig nicht aus in Solana Beach, solange ich nicht weiß, dass meine scheiß Sachen aus dem Ding raus sind!«
    Wie ein Klumpen Teig steckte ein fleischfarbenes Hörgerät in ihrem Ohr. Ich dachte: Hören taube Schizophrene auch Stimmen?
    Behutsam rollte sie ihren Einkaufswagen weiter, umschiffte Schlaglöcher, hielt sich hochherrschaftlich aufrecht.
    »Du lebst zu sehr in deinem Kopf, Cracker!«
    Wenn du wüsstest , dachte ich.

Auszüge aus Ismet Prcićs Tagebuch
August 1999
    Ich habe ihn gesehen, mati . Ich habe gesehen, wie Vater gestern vor einer Bank die Hand einer Frau hielt. Später hat er es abgestritten. Aber ich kann dir das nicht erzählen. Ich glaube nicht, dass du es verkraften würdest. Ich habe es Mehmed erzählt, und er hat mir nicht geglaubt. Wie ein Don Juan sieht er nicht gerade aus , so hat er’s formuliert. Ich nehme mal an, die Realität spielt keine Rolle, solange wir sie ignorieren.
    Heute habe ich einem Jungen ins Gesicht geschlagen, mati . Hinter dem Restaurant Albatros. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sah gut aus, hat gegrinst. Ich hab ihn geschlagen und er hat sich einfach hingesetzt. Ich bin weggerannt. Es war so gut, das Wummern meines Herzens zu spüren. WUMM! WUMM! WUMM! WUMM! WUMM! WUMM! WUMM! WUMM! WUMM!
    Ich kann’s nicht erwarten, hier wegzukommen, mati . Ich kann’s nicht erwarten, dich wieder zu verlassen.

(… liebe, unterbrochen … )
Januar bis März 1995
    Irgendwo, irgendwie redete

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