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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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und das Stück habe sie umgehauen, sie habe sogar das Rauchen vergessen. Das aus ihrem Mund und obwohl sie davon überzeugt war, dass Strenge die beste Form von Liebe sei – mein Brustkorb schwoll schier vor Freude und Leid. Im Bett weinte ich.
    Am nächsten Tag, während meines quasi-kontinentalen Frühstücks aus halbgebackenem Brot (es gab nur sporadisch Strom), Pflaumenmus, Pflanzenfett und Kamillentee, kam ein Anruf. Ich hatte ihn erwartet. Asmir war wieder obenauf, hatte zu seiner alten Einstellung zurückgefunden, er wollte auf Torso scheißen, er hatte neue Ideen, neues Selbstbewusstsein, war voller Tatendrang, und er redete ohne Unterlass: »Neue Gruppe, neuer Ansatz, neuer Proberaum, alles neu.« Es war wie eine doppelte Dosis Asmir, und das war intensiv, aufregend und furchterregend. Er fragte mich, ob ich mitmachen wolle und ich sagte ja.
    Ich sagte ja, weil er am Abend zuvor geweint hatte, als die Geier sein Baby verrissen. Weil er fünf Jahre alt war, und weil ich spielen wollte.
    Von da an war das Theater mehr Spielplatz als Büro, mehr Labor als Klassensaal, mehr Religion als Hobby, mehr Geheimkult als Theatertruppe. Es war alles.
    Bokal wollte die Truppe malen, also baute Asmir einen klobigen Holzrahmen, über den die Leinwand gespannt werden sollte, und schleppte ihn quer durch die Stadt zu unserem neuen Proberaum. Wir zogen vom Haus der Armee in mein altes Revier, das Haus der Jugend. Statt einer Bühne und eines Zuschauerraums hatten wir jetzt einen großen Raum voller Müll: kommunistische Einheitsstühle, Einzelteile eines Schlagzeugs, eine Sammlung kaputter Mikrofonständer, ein bedrohliches Ungeheuer von einem Aktenschrank aus Massivholz und schmutzig-beigefarbene Vorhänge, die man furchtbar gerne angezündet hätte. Den Saal hatten wir nur bekommen, weil ihn sonst niemand haben wollte. Alle Fenster zeigten nach Südosten, was ihn zur potentiellen Zielscheibe der Granatwerfer machte.
    Der Teppich hatte die Farbe verwesender Zigarettenfilter und roch auch entsprechend. Mein Gott, was sich alles auf diesem Teppich abspielte, vom größten Mist bis zur göttlichen Fügung, von banaler Schufterei bis zur Magie. Alles. Auf diesem Teppich, umgeben von feuchter, stickiger Luft und penetrantem Staubgestank, barfuß, am Theater leidend und am Leben, war ich am glücklichsten. Mein Gott, und ich habe es vergessen.
    Wir probten Samirs Stück, es lief phantastisch, alles war toll und bedeutsam und wir fühlten uns wie echte Künstler. Danach gingen wir feiern, und den riesigen Rahmen schleppten wir mit. Wir gingen ins Café Galerija, aber da keiner von uns Geld hatte, landeten wir schließlich im Park auf einer Bank und stellten den Rahmen an eine Pappel in der Nähe. Wir sahen die Leute daran vorbeigehen, erschrockene Menschen, traurige Menschen, Masken des Elends auf Strichfiguren. Niemand war dick. Alle waren in Alarmbereitschaft. Selbst alte Menschen bewegten sich irgendwie energischer, weil sie wussten, was der Krieg jederzeit bringen konnte. Es sah grotesk aus, unnatürlich. Hätte man es im Fernsehen gesehen, hätte man wegschauen wollen.
    Als würden wir durch etwas dazu getrieben, richteten wir den Rahmen vor uns auf. Um eine Veränderung auf diesen Gesichtern zu bewirken oder so. Wir stellten ihn auf unseren Oberschenkeln ab und rührten uns nicht mehr. Wir wurden zum Gemälde, starrten durch den Rahmen in die echte Welt. Und schon bald blieben die echten Menschen stehen und starrten uns an, das Gemälde, vergaßen einen Moment lang den Krieg, diese niederdrückende Psychose, die alles durchdrang. Menschen können nicht anders, sie müssen Kunst betrachten, egal was.
    Ein paar Kinder rannten um uns herum, versuchten eine Bewegung in unseren Gesichtern zu entdecken und lachten ausgelassen, winkten mit ihren Händchen vor unseren Augen und kratzten sich an den Köpfen, während wir mit keiner Wimper zuckten. Die Erwachsenen starrten uns größtenteils aus der Ferne an und fragten sich vermutlich, was wir da machten. Zwei ältere Männer, die Hände auf dem Rücken verschränkt, sahen uns heftig angewidert an und schüttelten die Köpfe, als sei das Ende der Welt gekommen und wir dafür verantwortlich. Und das Ganze wäre eine Übung geblieben, spontane Aktionskunst, und niemand hätte sich später daran erinnert, hätte nicht plötzlich Granatfeuer eingesetzt und wären wir nicht in unserem Wahn inmitten der davonrennenden Menschen reglos sitzen geblieben.

(… anatomie eines flashback …)

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