Scherben
Hinsicht, klein und unauffällig wie ein Möwenweibchen. Ich heftete mich wochenlang an ihre Fersen, ging ihr nach, schickte telepathische Botschaften in den Hinterkopf unter ihrer Hippiefrisur. Als das nicht funktionierte, ging ich vor ihr, sah sie an, suchte fiebrig ihren Blick.
Komm schon! , dachte ich.
Ihre Augenbrauen zuckten beunruhigt, sie blickte nach unten, packte irgendeine Freundin am Ellbogen und eilte schnellen Schrittes davon, flüsterte und schüttelte den Kopf und blickte sich zu mir um, als müsste ich schleunigst eingewiesen werden.
Nachts saß ich auf meinem zerwühlten Bett, zerbrach mirden Kopf darüber, ob ich das, was ihr nachts betrunken herausgerutscht war, nur halluziniert hatte, oder ob es wirklich passiert war. Vor meinem geistigen Auge spielte ich es immer und immer wieder durch, wie ich mit Omar vor dem Theater stand und mir trotz zweier Jacken den Arsch abfror, als sie die Straße entlanggetorkelt kam, mich ansah, sich zu ihrer Freundin umwandte und sagte: »Ist er das?« Wie sie die Stufen hinaufkam, den Reißverschluss meiner ersten Jacke öffnete, mir ihre jungenhafte Hand auf die Brust legte und sagte: »Rosa Jacke, das ist er!« Wie sie sich mit hartem Schnaps im Atem zu mir vorbeugte und flüsterte: »Ich hab eine Freundin, die steht voll auf dich; ein wunderschönes Mädchen.« Wie mein Herz anschwoll.
Mir ist gerade etwas klargeworden. Ich trug zwei Jacken, weil Winter war. Januar, glaube ich. Der 28. Februar war der Tag, an dem Asja und ich zusammenkamen. Wie ist es dann möglich, dass mir zwei Tage, nachdem ich erfuhr, dass sie mich mochte, eine Biene in die Nase flog? Halten Bienen in diesem Teil der Welt keinen Winterschlaf? Ich denke doch. Aber ich erinnere mich daran, an den Vorfall mit der Biene, meine ich. Das ist mir passiert. Da bin ich sicher. Ich erinnere mich, wie demütigend es war. Ich erinnere mich an das, was es mich lehrte. Ich erinnere mich deutlich an die Erkenntnis, vom Universum zusammengestaucht worden zu sein, weil ich den Eindruck erwecken wollte, ich würde besser aussehen, als eigentlich der Fall war. Also musste es ein anderes Mal passiert sein, vor einem anderen Mädchen. Aber warum habe ich die beiden Erinnerungen vermischt? Weshalb kann ich mich an das andere Mädchen nicht erinnern?
Jemand, ich glaube, es war Omar, hat mal zu mir gesagt, dass Erinnerungen wie Kassetten sind und dass es wichtig ist, so viele wie möglich aufzubewahren, damit man sie später noch mal abspielen und sich ins Gedächtnis rufen kann, wer man zu jener Zeit war. Ich habe das immer für Blödsinn gehalten. Und tue es immer noch. Erinnerungen sind überhaupt nicht wie Kassetten. Kassetten konservieren die Realität. Köpfe konservieren Fiktionen. Ich konnte mich nie richtig an irgendwas erinnern. Zu viel Fantasie. Zu viel erdrückende Vergangenheit. Zu viele Tagträume. Außerdem ist die aktuelle Realität mit all ihren lästigen Einzelheiten viel zu kompliziert; egal, wohin man sieht, überall ist etwas, das für sich existiert: ein Aktenschrank voller Wörter, Mutter, die raucht, ein Verlängerungskabel auf dem Fußboden, eine schmutzige Socke, der Schatten meines Fußes auf dem weißen Laken unter mir, und das ist nur ein Bruchteil einer Sekunde, ein einziger Blick aus dem Augenwinkel. Wer soll da noch mitkommen, wenn unsere Augen so weit geöffnet sind, die Sekunden so kurz und billig – und so leichtfertig verschwendet?
Mutter ist ein Wrack, gebrochen. Mein Vater ist geschäftlich unterwegs. Jedenfalls sagt er das. Sie denkt, weiß, dass er jemanden hat. Mein Bruder will nicht aus seinem Zimmer kommen, er hält sie für bekloppt. Die Frauen in der Nachbarschaft stricken ihre Tratschpullover. Mutter sieht, wie sie sich gegenseitig mit den Ellbogen anstupsen, wenn sie auf dem Weg zum Supermarkt an ihnen vorbeigeht. Sie bleibt tagelang im Bett, isst nichts. Raucht nur und betet. Sie ist dünn wie ein Skelett, bleich, ihr Blick ist glasig.
Als ich hier ankam, ging’s ihr super. Die Energie meiner Heimkehr riss sie aus ihrem Trott, und wir redeten, unternahmen Spaziergänge, sie erzählte mir Geschichten aus ihrer Kindheit, und ich schrieb sie auf. Dann fing sie an, immer wieder dasselbe zu sagen, sie suhlte sich darin, wie depressive Menschen das tun, und es fiel mir immer schwerer, für sie da zu sein. Ich bin selbst nicht gerade der geistig zurechnungsfähigste Mensch der Welt. Wem soll ich schon groß helfen? Ich kann mir selbst was vormachen und mir
Weitere Kostenlose Bücher