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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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überzeugend versichern, dass alles wieder gut wird, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt.
    Nach ein paar Monaten fühle ich mich ausgelaugt, deprimiert.
    Heute früh wollte ich zu meinem alten Revier, wollte herausfinden, ob der Anblick des Theaters, der Schule oder des Parks mir helfen würde, über meine Jugendliebe zu schreiben, aber Mutter hatte einen Anfall. Sie hatte mich vorher gewarnt. Anscheinend ist sie währenddessen bei vollem Bewusstsein, sie kann nur nicht sprechen, richtig sehen oder schlucken. Sie lag im Bett und redete mit mir, hielt dann ganz plötzlich inne, ihre Augen wurden riesengroß, und sie legte langsam ihre Zigarette in den Aschenbecher und drehte sich auf die Seite. Ich kniete vor ihr und legte ihr eine Hand auf die Stirn. Die Adern in ihren Schläfen schwollen an, und ihr Unterkiefer verschob sich nach rechts, entstellte ihren Mund. Ihre Zunge hing heraus, ihr Atem wurde schwer. Ich neigte ihren Kopf, um es ihr leichter zu machen. Sie fing an zu sabbern, und ich wischte es mit einem Taschentuch ab.
    Es dauerte zehn Minuten. Danach schmerzten ihre Gesichtsmuskeln, und sie fühlte sich entsetzlich. Sie nahm ein paar Pillen und schlief ein. Ich tigerte eine Stunde lang durchs Haus, versuchte eine Geschichte von Nabokov zu lesen, stritt mich in Gedanken mit meinem Vater und meinem Bruder, schlug ihnen die Visagen zu Brei. Ich versuchte zu weinen, aber wenn man will, geht es nicht. Ich wollte mich umbringen.
    Dann nahm ich einen Stapel Papier, ging runter zum Laden, kaufte eine Zweiliterflasche Pepsi light und eine Dreiviertelliterflasche Rum, setzte mich in den Park und trank alles aus. Ich wollte sehen, wo Asja und ich unsere Namen gegenüber der orthodoxen Kirche in eine Fichte geschnitzt hatten, und sie waren noch da. Ich setzte mich darunter, versuchte über meine Jugend zu schreiben und schrieb das hier.
    Wie sich herausstellte, war ich doch nicht verrückt.
    Es war Mittwoch. Ich sprang mit blauen Lippen durch den Gang vor dem Klassenzimmer und atmete Dampfwolken, trotzdem trug ich beide Jacken offen, damit alle mein superschickes Beavis and Butt-Head -T-Shirt sehen konnten, das ich mir von Omar geliehen hatte. Anfang der Woche war eine Granate neben dem Gebäude auf der anderen Seite des Flusses explodiert, dabei hatten zwei große Granatsplitter das Fenster im zweiten Stock zerschlagen. Das Loch war mit Plastikfolie abgedeckt, aber ein gewisser Paša hatte seinen Namen mit einem Messer hineingeschnitten, und der Wind machte seltsame Geräusche, wenn er durch die Schlitze pfiff, ein bisschen wie gedämpftes Gewehrfeuer. In der Wand waren zwei Einschlaglöcher, die jemand mit einem schwarzen Filzstift eingekreist und zu einem riesigen Smiley vervollständigt hatte. Ich würdigte gerade den grotesken Charakter des Ganzen, als ich einen leichten Druck am Ellbogen spürte und herumschnellte.
    Die Freundin der Freundin, die mit Brille irgendwie anders wirkte, war offensichtlich sauer. Ihre Miene war abweisend, und sie versuchte nicht einmal zu verbergen, wie sehr es sie nervte, mit mir sprechen zu müssen.
    »Kennst du mich noch? Jaca? Die Party vom kleinen Mario?«
    Natürlich kannte ich sie noch, aber in meinem Kopf fanden sich keine Worte, in meiner Kehle schon gar nicht. Nirgends in meinem Körper war etwas, das auch nur annähernd so strukturiert war wie Worte. Mein Mund stand offen, und in meinen Ohren war ein Knacken und Zischen, als würde eine Limodose geöffnet. Dann konnte ich nicht anders: Ich lächelte. Es war stärker als ich. Es war, als steckten zwei Anglerhaken in meinen Mundwinkeln, die mir die Lippen immer höher zogen, und egal wie laut es in mir schrie, dass ich wahrscheinlich wie ein Vollidiot aussah, ein Schleimer, mir fehlte die Willenskraft, das Lächeln zu unterdrücken. Sie machte einen Schritt zurück.
    »Und?« In ihrer Stimme lag ein Hauch von Furcht.
    Noch immer nicht in der Lage zu sprechen, nickte ich eifrig.
    »Eine Freundin von mir möchte dich kennenlernen«, presste sie hervor. Es war offensichtlich, was sie selbst davon hielt.
    »Asja.« Endlich brachte ich ein Wort heraus. Ihr Mund verzog sich vor Überraschung. Die Furcht verschwand aus ihrem Gesicht, und sie verringerte wieder den Abstand zwischen uns.
    »Du weißt von Asja?«
    »Ja.«
    »Woher?«
    »Du hast es mir gesagt. Vor ungefähr einem Monat. Vor dem Theater.«
    »Nicht dein Ernst!« Sie schlug mir auf den Arm, fest, und brach in Gelächter aus. »Hast du dich deshalb benommen wie ein

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