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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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knickte ein. Der autodidaktische Besserwisser mit Selbstbewusstsein und Know-how bis zum Anschlag, der König seines eigenen Theaterreichs, dieser Mann fiel von ihm ab, und zurück blieb ein wütendes und verletztes Kind. Und ich liebte ihn dafür, wegen seiner Nacktheit, Unschuld und Leidenschaft. Innerhalb einer Sekunde war er nichtmehr fünfundzwanzig, sondern fünf Jahre alt, und er brüllte an gegen die Ungerechtigkeit und Ignoranz und Boshaftigkeit von Menschen, die sich nur um Profit scherten und nicht wüssten, was Kunst ist, selbst wenn ihnen Dalí persönlich die schlaffen Schwänze signiert hätte.
    »Es ist so, wie es ist«, sagte Brada, der den völlig aufgelöst schluchzenden Asmir ignorierte und mit seinem Eidechsenblick einen Zettel in seiner Hand überflog. »Morgen werdet ihr in Lukavac auftreten, dann gibt’s noch zwei weitere Vorstellungen hier am Freitag und am Samstag. Danach werden wir sehen, wo wir stehen.«
    »Ihr habt … keine Ahnung …«, platzte es aus Asmir zwischen zwei Heulkrämpfen hervor.
    »Es ist so, wie es ist«, sagte Brada noch einmal und lächelte. Lächelte. Er lächelte tatsächlich. »Ich denke, wir sind hier fast fertig.«
    Stille erfüllte das grüne Zimmer wie Gas. Asmirs Tränenkanäle waren leer, versiegt. Nur die zuckenden Bewegungen blieben. Wir saßen in unseren steifen Körpern, rangen unsere schreienden Gemüter mit zugerichtetem Willen nieder, was zum Instinkt wird, wenn man jung ist und es mit den langen Mänteln zu tun bekommt, die an den Kommunismus erinnern, in dem man aufgewachsen ist. Das Stück Teppich vor meinen Augen hatte sich mir eingebrannt. Ich vergaß es nie wieder.
    »Darf ich mal was sagen?«, fragte Bokal und brachte damit alles durcheinander. Die Frage war rein rhetorisch.
    »Sie gehören nicht mal dazu«, sagte einer von denen, ein kleiner Mann mittleren Alters mit Schnurrbart. Bokal beachtete ihn nicht.
    »Ihr seid Arschgeigen«, sagte er.
    »Was?«
    »Ihr seid Arschgeigen! Der Mann hier weint. Was ist los mit euch?«
    »Sie haben hier gar nichts zu sagen«, sagte Brada, endlich war ihm sein Lächeln vergangen. »Ich muss Sie bitten zu gehen!«
    » Du willst mich bitten zu gehen? Mach schon, bei Gott! Ich will’s hören, wie du mich bittest zu gehen!«
    Brada war einen Augenblick lang perplex und hätte jeden Moment etwas sehr Böses gesagt, wäre Bokal in seiner pelzgefütterten, bauschigen Jacke nicht aufgestanden und hätte einen Schritt vorwärts gemacht. Brada blieb die Entgegnung im Hals stecken.
    »Na?«
    »Beruhigen Sie sich«, sagte Brada plötzlich sehr auf Frieden bedacht. »Wir sind alle ein bisschen angespannt. Ich habe nur festgestellt, was Sache ist.«
    »Nein, du hast Leute wie Scheiße behandelt. Und ich werde dich nicht bitten zu gehen, ich werde dir sagen, dass du deinen beschissenen Arsch hier rausschieben sollst, bevor dich die Sanitäter raustragen müssen.«
    Die Torso-Theater-Älteren, allesamt erwachsene Männer, zogen die Schwänze ein und wichen wie im Film zurück, in Richtung Tür. Brada sah Asmir an:
    »Trifft der jetzt die Entscheidungen für dich?«
    »Ja, das tut er«, sagte Asmir.
    »Verpiss dich! Die brauchen dich nicht!«, sagte Bokal und machte einen weiteren Schritt nach vorne.
    »Du wirst in dieser Stadt nie wieder Arbeit finden!«, sagte Brada und folgte seinen Kumpels nach draußen.
    »Ich scheiß auf eine Stadt, in der Leute wie du was zu sagen haben!«
    Und das war’s.
    In jener Nacht, auf dem Nachhauseweg, zerriss ich meinen Torso-Theater-Mitgliedsausweis in vier Stücke und warf ihn in einen offenen Müllcontainer. Der Mond war in der Nachtfestgefroren, er steckte in ihrer endlosen Schwärze und war mein Zeuge. Wie ein perfektes Einschussloch in der getönten Scheibe eines Polizeiwagens.
    Mutter war noch wach, als ich nach Hause kam, sie hatte auf mich gewartet und auf dem Küchentisch, neben einem leeren Aschenbecher, Patiencen gelegt, ihr Zeigefinger berührte sachte ihre Lippen. Zu dieser Zeit während des Krieges waren unsere Reserven knapp, und Zigaretten waren teuer. Ständig fasste sie sich ins Gesicht und griff nach der Phantomzigarette, doch ihre Hände fanden nichts, flatterten verdattert umher wie verwirrte Spatzen und landeten schließlich auf einem Satz Karten oder in ihrem Schoß, wo sie eine Weile gequält zuckten, ehe sie es erneut versuchten. Sie sagte, meine Rolle sei das Beste, was ich künstlerisch je gemacht hätte, meine Verwandlung habe ihr sogar einen Schrecken eingejagt,

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