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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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Lässig berührte er den Rand seiner Kappe, als wollte er sich vergewissern, dass er sie am Morgen auch wirklich aufgesetzt hatte, und befahl einem der rangniederen Offiziere, die Liste vorzulesen. Er zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich an den Transporter und rauchte. Im Vergleich zum Rest der Truppe sah er aus wie ein Soldat einer anderen, überlegenen Armee.
    Ein Unteroffizier mit schiefen, gelben Zähnen brüllte die Nachnamen in den Morgen, und die jeweiligen Soldaten stiegen auf die Laster. Als er fertig war, stand Mustafa immer noch stramm.
    »Was ist Ihr Problem, Soldat?«, fragte der Hauptmann, der auf ihn zutrat und wie ein Drache Rauch aus der Nase stieß.
    »Mein Name wurde nicht aufgerufen, Herr Hauptmann.«
    »Haben Sie richtig hingehört?«
    »Ja, Herr Hauptmann.«
    »Die Liste!«, signalisierte er dem Unteroffizier, als wollte er ihm in den Arsch treten. »Und Sie geben mir Ihren Ausweis.«
    Mustafa übergab ihm seinen Militärausweis. Der Hauptmann überflog das Klemmbrett mit den Augen und fand in Nullkommanichts, wonach er suchte. Er ohrfeigte Mustafa mit einem starren Blick und schlug ihm den Ausweis ins Gesicht.
    »Ab in den Laster! Mein Name wurde nicht aufgerufen . Das nächste Mal sperren Sie die Ohren auf, verdammt!«
    Mustafa rannte zum nächsten Laster, aber der war voll.
    »Und glauben Sie bloß nicht, ich vergesse das! Ich hab ein Gedächtnis wie ein Elefant!«
    In keinem der Laster war noch Platz. Mustafa drehte sich verwirrt um.
    »Was ist jetzt schon wieder?«
    »Da ist kein Platz mehr, Herr Hauptmann.«
    »Dann werden Sie wohl mit mir fahren müssen.«
Hinten im Transporter gab es keine Seitenfenster, nur das kleine vorne, durch das man den Hinterkopf desFahrers sah, und zwei in den hinteren Türen. Es war heiß da drin, dunkel, schwül und laut. Der Hauptmann schlief, ausgestreckt über zwei Sitze wie Cäsar, sein auf und ab wogender Bauch prüfte die Belastbarkeit seiner Hemdknöpfe. Der Unteroffizier saß da wie ein Roboter, ertrug sein Leben mit antrainierter Unbekümmertheit und unerträglichem Fatalismus. In seinem Blick lag so gut wie nichts, zumindest nichts Lebendiges. Mustafa tat sein Bestes, die Nerven zu bewahren.
    Die Töne aus dem Radio waren verzerrt, die Stimmen klangen außerirdisch, abgehoben, krank. Die Reifen schmatzten auf dem Asphalt, Regentropfen schlugen begehrlich auf das dünne Blechdach. Der Hauptmann wachte auf, sah sich um, leckte sich über die offenbar salzigen Lippen und schloss erneut die Augen. In diesem Moment merkte Mustafa, dass seine Schnürsenkel wieder aufgegangen waren. Diesmal nur auf der linken Seite. Erst wollte er es lassen, da er noch eine Weile nicht laufen musste und die Nase voll davon hatte, ständig die Stiefel zuzuschnüren, aber die kleinen Insekten der Zwanghaftigkeit nagten an seinen Gedanken, riefen ihm in Erinnerung, dass offene Schnürsenkel einem unnatürlichen Zustand gleichkamen, dass das Universum darunter litt, dass er etwas dagegen unternehmen musste.
    Als er sich vornüberbeugte, merkte er nur, dass es im Transporter heller wurde und dass etwas vorne an seiner Jacke und seiner Feldbluse zog, der Griff einer Geliebten, wenn sie geil ist und ihren Mann näher bei sich haben will. Seine Fingerspitzen berührten die Schnürsenkel, als das Geräusch kam, ein Geräusch, das so ungeheuerlich war, dass es die Dichte der Dinge veränderte und die Luft fest werden ließ wiePlexiglas, das ihn umgab und erstarren ließ. Es war, als hätte Gott beschlossen, sich zu zeigen, und als wäre die Realität unzureichend ausgestattet dafür, sie gab nach, wich zurück. Nur Mustafas Gedanken, die kleinen Äffchen des freien Willens, sausten immer noch kreuz und quer herum, und er erinnerte sich an seine lähmenden Bauchschmerzen als Kind und an seine Angst, jemandem davon zu erzählen, weil er dachte, er würde sterben, wenn er es täte, und daran, dass ihm seine Mutter sein Lieblingsschlaflied vorgesungen hatte, das über Großvaters Haus, und wie er einmal nichts sehen konnte, als ihn sein Vater zu einem Fußballspiel mitnahm, weil bei jeder Torchance immer alle aufsprangen, und an die entsetzliche Lähmung, die ihn überfiel, als ihn ein Mädchen in einer dunklen Unterführung, in der es nach menschlichen Exkrementen und verbrannten Streichhölzern roch, fragte, ob er mit ihr gehen wolle, und wie sehr er diesen Typen Vlado hasste, mit seinen widerlichen dünnen Hexenfingern …
Nein, Mustafa ist nicht umgekommen.
Es war eine

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