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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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willst du denn, Bokal? Soll ich’s alleine für dich holen?«
    »Wart mal eine Sekunde«, sagte Bokal und trat wieder ans Fenster.
    »Hey, ich bin’s noch mal.«
    »Was gibt’s?«
    »Sie brauchen nicht zufällig ein paar rote Converse All Stars?«
    »Nein, brauche ich nicht.«
    Bokal winkelte sein rechtes Bein an, zog den Turnschuh aus, ohne sich zu bücken. Er präsentierte ihn dem Mann wie ein erfahrener Schuhverkäufer.
    »Die hab ich gerade für zwanzig Mark auf dem Markt gekauft und ich wäre bereit, mich für meinen Pass davon zu trennen.«
    »Das kann ich nicht machen.«
    »Kommen Sie schon. Das sind gute Turnschuhe. Und modern.«
    »Die sind mir zu groß.«
    »Die sind nicht groß. Dann tragen sie eben zwei oder drei Paar Socken. Der Winter steht vor der Tür. Die wären perfekt und warm.«
    Der Mann fing an zu lachen.
    »Was ist denn so lustig?«
    »Sie. Sie lassen nicht locker.«
    »Ich brauche den Pass.«
    Er lachte erneut, schüttelte den Kopf.
    »In Ordnung. Stellen Sie sie hier hin.«
    Bokal zog den anderen Turnschuh aus und vereinte ihn mit seinem Freund.
    Der Mann gab ihm den Pass, und Bokal schob ihn sich lässig in die hintere Hosentasche.
    Minuten später sahen Asmir und ich ihm zu, wie er in seinen schwarzen Socken die Straße runterschlurfte. Asmir blieb zurück, um auf den Rest der Truppe zu warten und den Jüngeren zu helfen. Er erinnerte mich noch mal daran, dass der Bus um zehn am Abend vor dem Nationaltheater abfuhr. Ich ging nach Hause, um zu packen.
    Auf dem Heimweg setzte ich einen Fuß vor den anderen und bewegte mich zum letzten Mal für wer weiß wie lange in dieser Richtung durch den mir vertrauten Ort. Ich spürte den steinernen Gehweg, erst an den Fersen, dann an den Zehen, dann wieder an den Fersen, dann an den Zehen, und ich sah meine Füße darauf aufsetzen, erst den linken, dann den rechten, dann den linken, sie legten eine Distanz zurück, und was ich spürte und was ich sah, passte perfekt zueinander. So war es zuerst, doch dann begann ich zu denken, ich sagte mir, es ist soweit, heute Abend fährst du weg , und alles verschob sich, nichts ergab mehr einen Sinn. Es war, als lastete etwas auf meiner Brust und meinem Gehirn, und ich blickte nach unten, sah die Bewegung meiner Füße in ihren Reeboks, aber alles, was ich spürte, war das niederdrückende Gewicht von Asjas Du Nuss , Mutters Dann bringe ich mich um , Vaters Ich weiß nicht, was das Klügste ist , Bokals schwarzen Socken und Asmirs ausgebreiteten Flügeln. Und plötzlich lief ich in etwas hinein. Vor mir war nichts zu sehen – die von Bäumen gesäumte Straße der Oktoberrevolution sah aus wie immer –, aber ich lief in etwas hinein. Ich spürte den Stoß. Einen Moment lang fühlte ich mich tot und leer und konnte nicht anders, ich musste stehen bleiben. Ich blickte auf und sah mich selbst von hinten, ich ging weg, ohne zu zögern. Ich stand da, neben mir war der Eingang der Zentralbank mit den Sandsäcken, und ich sah jemanden, der ich war, der entschlossen war, fortzugehen. Ich war es, so sah ich aus. Und es hatte den Anschein, als wüsste ich, worauf ich mich einließ.
    Dann bewegte ich mich weiter, meine Turnschuhe schluckten Meter für Meter des grauen Bürgersteigs, aber irgendetwas fehlte. Ich wurde langsamer und drehte mich um, und sah mich dort vor der Bank stehen, unfähig, mich weiterzubewegen, unfähig, mich einzuholen, als gäbe es eine unsichtbare Schranke, die zwei Möglichkeiten der Zukunft voneinander trennt und die nur einen Teil von mir durchlässt. Ich wollte stehenbleiben und kehrtmachen, aber meine Füße trugen mich weiter vorwärts.
    Zu Hause packte Mutter meine Tasche, schmierte Brote für unterwegs, schraubte Deckel auf Wasserflaschen. Vater gab mir eintausend Deutsche Mark, die ich in einen Tabakbeutel schob und in meiner Unterwäsche versteckte. Mehmed fasste mich immer wieder an, klopfte mir auf den Rücken, tätschelte meinen Unterarm, sein Blick war ein anderer als sonst, ängstlich vor Liebe. Wir saßen alle im schwachen Schein einer kleinen Neonröhre und taten so, als würde sich nichts ändern. Vater riss seine alten Witze, Mutter rauchte und schüttelte den Kopf, Mehmed und ich grinsten. Um neun gingen wir alle raus und durch die Stadt zum Nationaltheater. Dort waren viele Menschen, Kinder und Eltern. Sie wuselten um den Bus herum, beluden ihn. Einige Familien waren lauter als andere, Mütter weinten, Väter riefen allerletzte Anweisungen, sprangen hoch und hämmerten gegen

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