Scherben
Soldat«, sagte er.
»Schade, dass Sie alle verloren haben«, erwiderte Mustafa und ignorierte die ausgestreckte Hand des Hauptmanns, die zu zittern begann.
»Was haben Sie gesagt?«
»Schade, dass Sie alle verloren haben.«
Die Augen des Hauptmanns wurden kleiner, niedergedrückt von seinen Brauen, die ständig in Bewegung waren, was auf Wellen des Schmerzes in seinem Kopf schließen ließ. Einen Moment lang war er sprachlos. Der Moment zog sich. Sein militärisches Gebaren fiel von ihm ab, und plötzlich sah er aus wie ein Handelsvertreter oder ein Lehrer. Mustafa blieb cool und ungerührt, benahm sich wie ein Vorgesetzter.
»Aber Sie rauchen doch gar nicht«, sagte der Hauptmann, »und sehen Sie sich meine Hände an.«
Mustafa krempelte den Ärmel hoch und zeigte ihm seinen Arm.
»Sehen Sie. Ich hab schon Gänsehaut vor lauter Mitleid«, sagte er und sah, wie der verdatterte Hauptmann den Mund geräuschlos öffnete und wieder schloss.
Als der Krach des Transporters mit dem kaputten Auspuff von dem sehr viel gefährlicheren Lärm von Front und Donnergrollen abgelöst wurde, als sich die übermütige Energie in nacktes Entsetzen verwandelte und ihn der Schock einholte, als er in einer Reihe von Soldaten auf eine Gruppe gesichtsloser Häuser mit ausgestochenen Augen und verspritzten Hirnen zumarschierte, die Überreste ihrer eingeschlagenen Schädel ringsum im Gras verstreut, da merkte Mustafa, dass er tatsächlich rauchte und es bislang nur nicht gewusst hatte. Der Regen fiel in endlosen Schnüren, die aussahen, als könnte man an ihnen bis hinauf in Gottes feuchten Keller klettern; die Gesichter der Soldaten hingen so schlaff wie ihre zusammengestückelten Uniformen. Der Hauptmann hatte seine Kraft wiedergefunden, überbrüllte die Explosionen, verzog keine Miene, wenn verirrte Kugeln in Regenrinnen schwirrten und dumpf in Ziegelsteine einschlugen. Er bestimmte ein Haus als vorläufigen Kommandoposten und rief die Namen der Soldaten auf, die als erste Ablösung für die in den Schützengräben bestimmt waren. Nach allem, was sich zugetragen hatte, rechnete Mustafa damit, seinen Namen zu hören, doch das erwies sich als Irrtum.
Der Hauptmann hatte einen anderen Plan. Er befahlder zweiten und dritten Abordnung, in den Häusern in Deckung zu gehen, bis sie an der Reihe waren, ihrerseits die Gräben zu besetzen, und wies ihnen die Häuser zu. Als Mustafa an der Reihe war, führte er ihn in eine dachlose, zerbombte und dank Regen und Dauerbeschuss kaum mehr ummauerte Freiluftküche zwischen der Häusergruppe und den Schützengräben oben am Hügel.
»Sie bleiben hier«, brüllte der Hauptmann im Lärm der Explosionen. »Alleine!«
Mustafa blickte durch die klaffende Öffnung eines Fensters und sah das Wasser knietief auf dem gesamten Boden stehen. Der Lärm von Wasser, das auf Wasser traf, war ohrenbetäubend. Er wandte sich an den Hauptmann.
»Mir wurde keine Plane ausgehändigt, Sir.«
Der Hauptmann grinste dreckig, krempelte sich einen Ärmel hoch, entblößte seinen von Gänsehaut freien Arm und zeigte ihm, wie viel Mitleid er hatte.
In der Nacht lehnte Mustafa in seiner nassen, schweren Uniform an einer nassen Wand und hustete ein nasses, schweres Husten. Auch mit seinem Gehirn stimmte etwas nicht, er murmelte Lieder, die ihm nicht aus dem Kopf gingen, und döste in halluzinativen Träumen. Immer wieder sah er Szenen aus dem Leben eines anderen, vermischt mit seinem eigenen, und das verwirrte ihn: zwei Mütter, zwei Väter, ein Bruder, ein aquarellierter bewölkter Himmel über einem reißenden russischen Fluss an der Wand eines Esszimmers, der Rahmen an den Ecken angeschlagen. Seine Lippen waren vom Fieber aufgesprungen, und er leckte immer wieder darüber. Er war umgeben vonWasser und bestand selbst aus Wasser, doch Mustafa fühlte sich wie ausgetrocknet.
»Dritte Abordnung!«, brüllte jemand in die Nacht. Er kam zu sich und löste sich zitternd von der Mauer.
Er saß im Schützengraben auf einem Birkenstamm und schlief, sein Gewehr auf den Knien. Er träumte von einer Theateraufführung, in der er mitspielte, irgendwas stimmte nicht mit dem Lichtwerk, die Scheinwerfer krachten immer wieder runter. Ab und zu wachte er auf, wenn die anderen drei Soldaten den Hügel hinauffeuerten und den Feind verfluchten. Sie ließen ihn mehr oder weniger in Ruhe, sie sahen ja, in welchem Zustand er sich befand, und spielten weiter Karten unter einer Plane. Refa, der das Kommando hatte, gab ihm eine Aspirin und
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