Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
Vom Netzwerk:
120-Millimeter Mörsergranate, die wahllos in Richtung Stadt abgefeuert worden war, um die Bevölkerung auf dem Laufenden und im Zustand der Angst zu halten. Sie schlug in genau dem Moment neben der Straße ein, als der Transporter vorbeifuhr. Je größer die Dichte der Oberfläche, in die eine Granate einschlägt, desto größer ist ihre zerstörerische Kraft, da sie dann über dem Boden explodiert, wodurch die Granatsplitter eine größere Reichweite bekommen. Wie es der Zufall so wollte, hatte es seit Tagen geregnet, der Boden war schlammig, die Granate verfehlte den Kilometerstein aus Zement um dreißig Zentimeter und drang in den Matsch, wo sie tat, was Granaten tun. Die meisten Splitter flogen nach oben, verpassten der nächsten Baumkrone eine frontale Lobotomie, aber ein paar schafften es bis zum Transporter. Einer riss das rechte Vorderrad auf, einer schlug durchs Fenster der Beifahrerseite und verkeilte sich in der Verkleidung des Autohimmels über dem Kopf des Fahrers, einer gab dem Auspufftopf den Rest, und einer schlug einen bleistiftgroßen Schlitz in die Seite des Transporters, durchschnitt Mustafas Jacke, riss sein Hemd vorne auf, ohne ihn zu berühren, durchschnitt die Jacke erneut und trat durch ein Loch von der Größe einer Münze wieder aus.
    Als er die Löcher als das erkannte, was sie waren, konnte Mustafa nicht mehr denken. Ein berauschendes Hochgefühl erfüllte ihn, als wäre er im erlösenden Moment des Niesens erstarrt. Er berührte die heiße Haut seines Unterleibs und fing an zu lachen.
»Und das ist Ihr erster Tag?«
    »Ja, Herr Hauptmann«, sagte Mustafa und lächelte, ein angestrengtes Lächeln, ein bisschen zu breit. Seine Hände spielten einen Trommelwirbel in der Luft, der im lautlosen Crescendo eines imaginären Beckens gipfelte. Für den Bruchteil einer Sekunde legte er seine Hände auf die Knie, dann warf er sie wieder hoch, als wollte er etwas fangen.
    »Ich weiß nicht, ob Sie gesegnet sind oder verloren«, sagte der Hauptmann, mischte einen Satz Spielkarten mit nackten Frauen drauf und versuchte ihn mitseiner Stimme und dem langsamen, monotonen Mischen zu hypnotisieren. Sie saßen in jemandes Vorgarten an einem Holztisch unter einem Dach aus Kunststoff-Wellplatten und warteten, bis der Fahrer und der Unteroffizier den Reifen gewechselt hatten. Mustafas Knie sprangen vor Adrenalin auf und ab. Sein Gesicht verzog sich unkontrolliert in alle möglichen Richtungen. Zwischendurch kicherte er wie irre.
    »Sehe ich aus wie ein Verlorener?«, fragte Mustafa in einem Tonfall, der die Grenzen des Verhältnisses zwischen Soldat und Offizier überschritt. Der Hauptmann war offenkundig verärgert, ging aber darüber hinweg.
    »Sie haben einen Schock«, sagte der Hauptmann. »Wir spielen Poker, um Ihre Gedanken zu fokussieren.«
    »Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte Mustafa. Er lachte hemmungslos, öffnete und schloss seine Fäuste.
    »Mit einer Waffe in den Händen wären Sie ein Sicherheitsrisiko.«
    Mustafa versuchte sein Zappeln zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht. Er kicherte und betrachtete seine Hände, belebte Wesen mit einem eigenen Willen.
    »Ich gebe als Erster«, sagte der Hauptmann betont monoton.
    »Um was spielen wir? Poker ohne Einsatz? Das ist doch Kinderkacke.« Es war offenkundig, dass Mustafa nicht anders sprechen konnte. Dass er unglaublich viel Energie ausschüttete. Der Hauptmann schluckte.
    »Wir können um Zigaretten spielen.«
    »Super Vorschlag! Ich rauche nicht mal, Mann, aber Sie auch nicht mehr, wenn ich mit Ihnen fertig bin! Dann haben Sie nämlich keine Zigaretten mehr.«
    Er lachte ein bisschen zu hysterisch und ein bisschenzu lang. Der Hauptmann gab sich Mühe, seine Verärgerung zu unterdrücken, doch was er sagte, klang immer noch schroff.
    »Passen Sie auf!«
    Er schlug mit der flachen Hand auf die hölzerne Tischplatte, lenkte Mustafas Blick dorthin und verteilte die Karten.
Eine Stunde später war der Reifen gewechselt, sie waren wieder unterwegs, und der Hauptmann hatte alle seine Zigaretten verloren, außerdem seinen Satz Spielkarten. An dem Auspufftopf ließ sich nichts machen, und hinten im Transporter war ein Krach wie im Inneren eines Presslufthammers. Die Stirn des Hauptmanns war zerfurcht, Mustafa blickte ihn unentwegt an und zuckte mit den Schultern, als wollte er sich für sein Glück entschuldigen. Der Hauptmann wandte den Kopf ab und griff nach dem nicht existierenden Päckchen in seiner Tasche.
    »Ich brauche eine Zigarette,

Weitere Kostenlose Bücher