Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
Vom Netzwerk:
sich selbst ficken.«
    »Na ja, eigentlich sollte das ja Ismet übernehmen, aber wie’s aussieht, wird da nichts draus«, sagte Bokal.
    »Hallo?« Asmir schrie praktisch. »Wollt ihr hierbleiben oder zurück in den Krieg?«
    Das Gelächter erstarb. Die Flasche wurde weitergereicht. Flüssigkeit schwappte. Jemand nahm einen Schluck.
    »Wir sind in einem fremden Land, verdammt, und wenn wir’s nicht richtig machen, wenn die uns finden, bevor der Bus über die Grenze ist, dann war’s das. Ich weiß, dass Ismet und Ramona Absprachen mit Branka haben, aber wir anderen nicht. Hier geht’s um mein Leben , Mann.«
    »Ist ja gut, und was machen wir?«
    »Heute Abend bei der Party streuen wir Gerüchte darüber, wohin wir wollen. Ich möchte, dass jeder von den Schotten über jeden von uns eine andere Geschichte zu hören bekommt. Erzählt ihnen, ich hab eine Cousine in Glasgow oder Irland. Oder einen Freund. Völlig egal, was ihr erzählt,Hauptsache, es klingt supergeheim, als dürftet ihr es auf keinen Fall weitersagen.«
    Die Musiker nickten zustimmend und wirkten überrascht, dass ihnen das nicht selbst eingefallen war. Ich sah Ramona an, und ihr Gesicht war ausdruckslos.
    »Warte mal kurz«, sagte sie. »Bringen wir unsere Aufführungen zu Ende, oder wollt ihr die Schotten mit dem Scheiß sitzenlassen?«
    Asmir blickte sie fast schon verwirrt an, offenbar schossen die Gedanken in seinem Kopf wild durcheinander.
    »Und?«
    »Morgen spielen wir beide Aufführungen«, sagte er. »Am letzten Tag verschwinde ich direkt nach der Matineevorstellung. Keine Ahnung, was du machst.«
    »Ich auch«, fiel Bokal ein. »Wir brauchen Vorsprung, um Branka zu entkommen.«
    Genau in dem Moment ging die Haustür auf, und Omar und Boro kamen mit Plastiktüten voller Bier wieder. Wind wehte mit ihnen herein, und es fühlte sich ein bisschen so an, als wäre der Raum implodiert. Alle guckten abwesend und steif. Niemand sagte etwas. Ramona nahm dem Schlagzeuger die grüne Flasche aus der Hand, stampfte quer durchs Wohnzimmer ins Bad und knallte die Tür zu.
    Die Party ging bis in die Nacht. Minderjährige tranken riesige Dosen Bier, verkippten es überall. Asmir, Bokal und die Musiker nahmen sie einzeln beiseite und erzählten ihnen, wo im Lande ihre erfundenen Verwandten lebten. Allison spielte in einem blauen T-Shirt Klavier, und ihr Vater war damit beschäftigt, Leute von seinem teuren chinesischen Teppich zu schieben. Die Jüngeren von uns waren traurig, weil unser Ausflug nach Schottland zu Ende ging, und ihre neuen schottischen Freunde ebenfalls. Alle machten Fotos von allen, weinten und tauschten Adressen.
    Ich wollte mit Allison alleine sein, aber plötzlich war es, als sei es ihr peinlich, dass ich da war, sie wirkte fast erschrocken. Sie war nicht die Allison vom Anfang der Woche, die zwischen Statuen Räder geschlagen, herumgealbert und jede Gelegenheit genutzt hatte, um mich zu berühren. Vielleicht lag es daran, dass ihr Dad dabei war und sie ihm gefallen wollte. Vielleicht war sie auch zu dem Schluss gekommen, dass sie ihren Freund doch liebte, und jetzt wollte sie mir nicht zu nahe kommen. Vielleicht hatte sie nur hinter seinem Rücken mit mir gespielt, das Flittchen. Aber wo war er heute Abend? Zum Schluss dachte ich, ich hätte mir von Anfang an keine Hoffnungen machen dürfen. Schlechtes Karma. Ich machte mir sogar Vorwürfe.
    Irgendwann nahm mich Asmir mit nach draußen auf den Balkon und schloss die Tür. Die Nacht war kalt, aber es regnete nicht. Die Straße unten war leer.
    »Sei nicht traurig wegen der«, sagte er. »Du kennst sie doch gar nicht.«
    »Mir geht’s gut«, sagte ich und beugte mich übers Geländer. Ich fragte mich, wie es sich anfühlen würde, über dieser Straße in der Luft zu schweben.
    »Echte Möwen fliegen alleine.«
    Er drehte mich um und umarmte mich. Sein ganzer Körper stank nach Bier.
    »Morgen nach unserer Aufführung verschwinden Bokal und ich.«
    »Du meinst übermorgen.«
    Er ließ mich los, damit ich sein Kopfschütteln sah.
    »Morgen.«
    In seinen Augen lag aufrichtige Traurigkeit.
    »Was ist mit unserer letzten Vorstellung?«, brachte ich gerade noch heraus.
    »Ismet, nicht die Show muss weitergehen, sondern das Leben.« Man merkte ihm an, dass er auf die Zeile sehr stolz war.
    Wir beugten uns beide über das Geländer und sahen in die Ferne. Meine Augen brannten. Ich betrachtete meinen weißen Atem vor dem grauen Gebäude auf der anderen Straßenseite und dachte über die Menschheit

Weitere Kostenlose Bücher