Scherben
sich an das Leben vor dem Krieg, da waren sie schon erwachsen gewesen, fertig. Vor dem Chaos hatten sie Ordnung gekannt, vor der Sinnlosigkeit Sinn. Sie waren wirklich entkommen, denn sie hatten das Chaos verlassen und waren zur Normalität zurückgekehrt. Aber wenn man vom Chaos geprägt war, gab es keine Rückkehr. Kein Entkommen. Chaos war die Normalität. Und die Normalität war unnatürlich, brüchig.
Asmir kam und umarmte mich.
»Mach dir nicht in die Hose«, witzelte er, aber die Umarmung fühlte sich gut an, aufrichtig.
Ich wich seinem Blick aus, weil meine Augen überliefen.Dann sah ich zu den Explosionen über Edinburgh Castle hinauf, wo festliches Feuer in den bedeckten Himmel geschossen wurde.
Wir schliefen fast die ganze Nacht nicht, trotz der Müdigkeit. Wir warfen einfach unsere Taschen ins Haus und rannten im Sprühregen durch die Stadt, und unsere Blicke saugten auf, was frisch war und unbekannt. Asmir ging voran, und wir folgten ihm in jeden Laden, jedes Pub, nur um zu sehen, wie es drinnen aussah. Wir sprangen über hohe Zäune in vornehme verbotene Parks und traten gegen Bäume, um uns gegenseitig noch nasser zu machen. In einem lauten Laden namens Basement, wo alle Angestellten fluoreszierende T-Shirts mit der Aufschrift It’s cool to be down trugen, tranken wir alle ein Bier. Wir surrten. Wir vibrierten. Wir waren high.
Am Morgen wachte ich in einem kleinen, nach Farbe riechenden Zimmer auf und hörte durch das Dickicht meiner Kopfschmerzen ein Klingeln.
Irgendwo im Haus ging eine Tür auf, und einen Augenblick später schrie jemand auf vor Schmerz. Vor Angst? Vor Freude? Ich hatte meine Klamotten noch an, deshalb sprang ich einfach aus dem Bett, rannte, machte die Tür auf und sah den kleinen Boro, der in vollem Galopp über den Gang auf mich zugerast kam.
»Bokal ist da! Bokal ist da!«, schrie er, während seine Füße Mühe hatten, auf dem Holzboden anzuhalten. Er bremste wie ein Motorradfahrer, sprang einfach herum, stand einen Moment lang still und rannte schon wieder in die andere Richtung davon, bevor ich überhaupt mein Zimmer verlassen hatte.
In seiner pelzgefütterten Jacke sah Bokal aus wie ein Hirte, er war unrasiert, und seine schmierigen und verfilzten Haarestanden kreuz und quer ab. Lucy hatte ihn vom Bahnhof abgeholt und in ein Taxi gesetzt, das ihn direkt zu uns gebracht hatte. Jetzt stand er im Wohnzimmer, seine Tasche lag auf dem Boden, aber er hatte noch immer den Rucksack auf der Schulter und ließ sich umarmen und auf die Schulter klopfen. Er sah glücklich und müde aus.
»Setz dich«, sagte Ramona und dirigierte ihn zu einem Sessel. Er machte zwei Schritte, dann überlegte er es sich anders.
»Wenn ich mich nie wieder setzen muss, ist das immer noch zu früh«, sagte er.
Ramona und ich beschlossen, zu dem Treffen mit den schottischen Jugendlichen zu gehen. Asmir machte sich über uns lustig, aber wir sagten, wenn seine Truppe in irgendeiner Form vertreten sein sollte – und wir wussten, dass Branka die Jüngeren antreten lassen würde, weil sie deren Pässe und Elternvollmachten und damit außerhalb Bosniens im Prinzip die Vormundschaft über sie hatte –, dann sollten wenigstens auch ein paar ältere Mitglieder dabei sein, um die Integrität der Gruppe zu schützen. Er machte sich weiter über uns lustig, aber wir blieben standhaft. Auf halbem Weg zum Theater holte er uns ein, mit Boro im Schlepptau. Er beschwerte sich endlos darüber, dass Branka die Truppe in diese Situation gebracht habe, und entschuldigte sich gleichzeitig immer wieder bei Boro, weil er in dessen Gegenwart so über seine Mutter redete. Er hätte es sich sparen können. Boro verstand schon. Boro war schlauer als wir alle.
Zwei Cliquen standen sich im Proberaum gegenüber, getrennt durch eine Sprachbarriere. Die schottischen Kids hatten eine Art Vorlage in den Händen; die bosnischen nicht.
Wir sahen niemandem in die Augen, zogen uns die Schuhe aus und setzten uns auf den Boden, so wie bei allen Proben mit Asmir. Die jüngeren Mitglieder unserer Truppe waren erleichtert, weil etwas Vertrautes passierte, und machten es uns nach, was dazu führte, dass die Schotten einander anschauten und überlegten, ob sie unserem Beispiel folgen sollten. Ihre Leiterin, eine naiv wirkende Highschool-Theaterlehrerin, gab ihnen grünes Licht.
Schon bald saß ein Kreis barfüßiger Jugendlicher wie die Indianer auf dem Parkett, und noch immer wusste niemand, was zu tun war. Branka bat Ramona, ihr zu
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