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Scherben

Scherben

Titel: Scherben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ismet Prcic
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nach, wie warm wir im Innern sein mussten, um in einer so kalten Umgebung zu überleben.
    »Was meinst du, wohin du gehst?«
    Er sagte nichts. Ich betrachtete sein Profil vor den Lichtern und den schwarzen Schattierungen der Stadt. Er ließ die Schultern hängen und wirkte kleiner, zahnlos, wie ein Kind oder wie ein Vater, der ein Kind verloren hatte.
    »Lass uns reingehen«, sagte er.
    Wir suchten Bokal, und Asmirs Verletzlichkeit wurde sofort von Redseligkeit verdrängt. Wir tranken und sahen einem schmächtigen schottischen Mädchen zu, wie sie etwas Bernsteinfarbenes in einen Blumentopf kotzte. Allisons Vater hatte genug. Ein Gong erklang. Wir suchten unsere Jacken.
    Als wir aufbrachen, zog sich Allison eine Jacke über und sagte, sie wolle noch ein Stück mit uns gehen, um sich richtig zu verabschieden.
    »Tu’s nicht«, flüsterte mir Asmir ins Ohr. »Du hast keine Ahnung, wie diese westlichen Mädchen sind.«
    »Wir mögen uns.«
    »Die stehen auf Schwänze, das ist alles. Wirst schon sehen. Ich beweise es dir.«
    Bokal und er blieben zurück, während wir anderen die Straße übernahmen wie eine einfallende Armee. Der kalte Sauerstoff hatte uns wach gemacht. Schottische Highschool-Mädchen hingen gackernd an den Armen der Musiker. Allison war wieder ganz die Alte, sie kitzelte mich, wuschelte mir durchs Haar, schubste mich mit der Hüfte vom Bürgersteig.
    Und gerade als mein Herz wieder anschwoll, kam Asmir aus heiterem Himmel, fuhr zwischen uns wie eine fetteMöwe, um seinen Beweis anzutreten, nahm die verdutzte Allison am Arm und ging mit ihr allen voran, als wären sie Liebende. Mein Herz schrumpfte auf die Größe einer Rosine. Die Liebe darin entwich wie eine Dampfwolke, tauschte Elektronen mit der nebligen Luft, vermischte sich mit ihr, füllte sie an mit Bedeutung. Ein anderes schottisches Mädchen (zu viele Haarspangen) schob mir ihre Hand unter den Arm, kuschelte sich an mich und sagte Wörter auf Englisch, während ich mich bemühte zu atmen, um nicht zu sterben.
    Ich weiß nicht, wie lange ich gegangen war, aber urplötzlich sah ich Allison weiter hinten auf dem Gehweg, offenbar verwirrt, ihr Körper steif. Asmir überquerte die Straße und verschwand um die nächste Ecke. Das Mädchen mit den Haarklammern redete weiter, wir gingen auf Allison zu, die wie angewurzelt dastand, und ich wurde langsamer, als gäbe es ein magnetisches Feld nur zwischen uns beiden. Ich blieb stehen und löste meinen Arm aus der Umklammerung des anderen Mädchens, entschuldigte mich, mein Gesicht voller Überschwang.
    »Nimm mich bitte in den Arm«, flüsterte Allison, und wir umschlangen einander. Unsere Pupillen weiteten sich, wurden zu Löchern in unseren Augen, durch die wir die ganze Welt in uns einsogen. Wir standen still, klammerten uns aneinander.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    Als sie es mir erzählte, hätte ich Asmir umbringen können.
    Später liefen wir Hand in Hand den Hügel von St. Stephen’s Church hoch bis zur Princess Street und versuchten dabei, nicht auf Ritzen oder Risse im Bürgersteig zu treten – ein Spiel. Vor uns erhob sich Edinburgh Castle, angeleuchtet und unerreichbar, wie das Paradies. Schwarze Taxis fuhren anuns vorbei, glitten düster auf und ab wie Leichenwagen. Die Kreaturen der Nacht stopften sich voll mit Fish and Chips aus öligem Papier. Touristen benahmen sich, als wären sie zu Hause, brüllten in exotischen Sprachen und lachten ohne ersichtlichen Grund hysterisch drauflos. Überall hingen Plakate mit Aufschriften wie »Eine Glanzleistung« oder »Wer das nicht gesehen hat, dem ist nicht zu helfen«. Auf einem war Salvador Dali abgebildet, sein Schnurrbart zu Dollarzeichen gezwirbelt.
    Auf der anderen Straßenseite war eine Gruppe Teenager in der Gegenrichtung unterwegs, und plötzlich gab es eine Aufregung, jemand schrie etwas mit breitem schottischen Akzent, und Allison ließ meine Hand fallen, als wär’s eine Nacktschnecke, und sagte:
    »Mist!«
    »Was?«
    »Das ist William.«
    Ich sah rüber. Ein großer blonder Junge löste sich aus der Gruppe seiner Freunde und rannte über die Straße auf uns zu. Ich sah mich schon hingemeuchelt, abgestochen. Ich verankerte meine Füße fest im Boden und betete.
    Aber er lächelte mich an und sagte: »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich würde gerne mit Allison unter vier Augen sprechen.« Oder so. In Bosnien hätte ich schon meine Eingeweide vom Bürgersteig kratzen können.
    »Kein Problem«, sagte ich viel zu

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