Scherbengericht: Roman (German Edition)
auch ein feinsinniger Theoretiker der Asado-Wissenschaft«, ergänzte Martin mit altertümelnden Wendungen die Laudationes für den Grillmeister. »Er hat seine ursprüngliche Knödelheimat zwar weit hinter sich gelassen, doch der handwerkliche Ethos des alpinen Herrgottschnitzers ist ihm in Patagonien erhalten geblieben.«
»Hört, hört! Mein Großer macht sich über unsere Tiroler lustig«, verkündete Clementine schroff und warf den Kopf nach beiden Seiten, als müsste sie etwas abschütteln.
»Und wir, wir könnten uns wohl auch einen Bissen gönnen«, meldete sich nun Siegmund, als Rotraud beim Verteilen der Portionen den Alt-Vegetarier übergehen wollte. »Nicht wahr, Lumpi, einmal im Jahr wollen wir doch sündigen?«, fragte er wieder unter den Tisch hinein.
»Ich bringe euch dann auch noch einen extra schönen Knochen«, versprach ihm Treugott.
Elias hatte sich den ersten Happen in den Mund geschoben. Er kaute langsam, reckte den Oberkörper und strahlte mit blauestem Augenglanz sein Gegenüber am anderen Tafelende an. Dabei bewegten sich die Falten um Kinn und Wangen sanft wie der Wasserrand eines stillen Teiches, und aus den Wangen und der Stirn wich alle Haut zurück in glücklichster Entfaltung. Er nickte Treugott zu, und sein warmer Blick ruhte lange auf ihm: prüfend, ermutigend, besänftigend.
»Liebste Rotraud, und du, Treugott, mein Guter«, sagte er schließlich und sog die Luft für einen rundum gut hörbaren Satz ein. »Ihr verlängert uns das Leben! Hier, bei euch im Paradies – da stoßen wir einfach die Sanduhr um! Auf diese Weise können wir euch noch lange, lange, lange dankbar sein – und eure Gastlichkeit genießen.« Clementine, Siegmund, Katha, Martin, selbst Gretl und die Vegetarier murmelten ihre Zustimmung.
Dann wandte sich der Onkel an seine beiden Jerusalemer Fleischabstinenzler: »Ihr könnt euch ja nicht vorstellen, was ihr euch da entgehen lasst: Treugotts patagonisches Neujahrslamm – das ist jedes Opfer wert.«
Benny zog bedauernd die Schultern hoch und zeigte seinen Zuhörern wie ein Priester die geöffneten Hände. »Das hat ja bei euch schon alle Merkmale eines Rituals«, konstatierte er. »Und jetzt, vom Grillplatz her, erreicht uns sogar ein Duft wie vom Hochamt in einer katholischen Kathedrale. Wenn du aber Rotrauds Spinatsoufflé probieren wolltest, lieber Onkel, würdest du uns gewiss nicht mehr so sehr bedauern. Und, wenn die footnote erlaubt ist: Was uns betrifft, könnte das Lämmlein hier immer noch frisch und fröhlich auf der Wiese herumhüpfen.«
»Oh, you both advocate the innocence of the lambs?«, wandte sich Katha voller Empathie und Bewunderung an Sarah Krohn. »You know, I love the dear little things myself – alive and kicking, of course!«
Elias richtete sich wieder an die ganze Tischrunde. »Ja, meine Lieben, so lebt es sich eben im urzeitlichen Patagonien, in seiner karno- und phallozentrischen Kultur. Sie entschädigt uns mit ihrer karnivoren Vitalität und verlängerten Virilität …«
Sarah wechselte amüsierte Blicke mit Katha; sie hatte immerhin die Begriffe aus dem Lateinischen verstanden und darin eine Hymne des alten Onkels auf die Fleischeslust erraten. Aber das übrige Publikum schien über die wissenschaftlich klingenden Fremdwörter und ihren Zusammenhang mit dem arglos genossenen asado zu grübeln. Eine kollektive Pause des nachdenklichen Vorsichhinkauens entstand, ein sinnendes, bei manchem gar mit Betroffenheit durchmischtes Nachschmecken, und jeder war mit seinem Bissen und Gewissen allein. Am konzentriertesten wohl Clementine, die auf ihre wackelige Zahnprothese aufpassen musste, und weil sie vorhin so etwas wie »Karneval« verstanden hatte. Hielt sie Elias alle zum Narren? Sollte ihr Jubiläum zu einem Narrentreffen ausarten? Nur Benny stand nun auf und machte ein paar Gruppenaufnahmen – von den carnivores in Patagonia, wie er ihnen lauthals ankündigte, wohl um lachende Gesichter ins Bild zu bekommen. Anschließend nutzte der vom Kauen weniger in Anspruch genommene Vegetarier die Gelegenheit, seinen Vortrag über die Revolution in der Nahrungsaufnahme fortzusetzen, die mit der Nutzung der Zwergtechnologie bei der Entwicklung dentaler Intelligenz einsetzen werde.
As I was saying a little while ago, seien Sarah und er am Vormittag des 11. September 1990 auf dem Weg zum JFK International Airport in einen Verkehrsstau geraten. »Wir hatten unsere Tochter Avital in Princeton besucht, wo sie damals studierte und heute in
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