Scherbengericht: Roman (German Edition)
der Universitätsverwaltung arbeitet. In das Chaos gerieten wir erst, als Manhattan schon weit hinter uns lag und wir bereits die startenden und landenden Flugzeuge hören konnten. Einige Terminals waren sogar in Sichtweite, und wir konnten aus dem Auto beobachten, wie in knappen Intervallen die Maschinen heranfuhren und andockten und ihre nächste Ladung in Empfang nahmen. It was maddening! Hier steckten wir fest in einem unentwirrbaren Blechknäuel – und nebenan, jenseits des Zaunes, lief am Boden und in der Luft alles glatt und pünktlich nach Plan. Dafür gab es eben den Tower, meine Damen und Herren! Ich stellte mir diese Kommandozentrale in der Höhe vor. Ausblick und Instrumente rundum. Von dort oben konnte alles erfasst, kontrolliert, dirigiert werden – bis ins kleinste Detail. In dieser Sekunde fiel mir der Apfel auf den Kopf!« Er machte eine Pause, um seine Zuhörer auf die Newton’sche Erkenntis mit etwas Spannung warten zu lassen.
Aber in die erwartungsvolle Stille hinein meldete sich der Dackel. Das plötzlich losbrechende, heftige Gebell des Hundes unter dem Tisch unterbrach die Atmosphäre. »Lumpi, Ruhe!«, zischte der aufmerksam zuhörende Siegmund Rohr so schneidend, dass Gretl zusammenzuckte und sogleich den Rest ihrer Fleischportion zu dem Tier hinunterwarf. Das Gekläff verstummte augenblicklich.
»Lumpis intellektuelle Fähigkeiten sind immer wieder beeindruckend«, versuchte Rohr die Störung zu entschuldigen. »Entschuldigen Sie, Herr Kohn. Er ist nun einmal Telepath. Wer weiß, was wir wieder vorausgewusst haben; vielleicht werden wir gleich das Telefon hören. Andererseits aber hat er einen undisziplinierten, liederlich-launischen Charakter; er ist eben ein Intellektueller. Dabei kann er seine Schlappohren kaum einen Zentimeter lupfen: Überhaupt kein Vergleich mit dem ausdrucksvollen Ohrenspiel unseres geliebten Odin, meines unvergesslichen deutschen Schäferhunds – wie Radarschirme bewegten sich seine Löffel, um bei Ihrem Flughafen-Vergleich zu bleiben, Herr Kohn … Herr Krohn. Sehen Sie also bitte Lumpi und mir diese Unterbrechung nach. Das wird ja heute geradezu ein Festessen mit wissenschaftlichem Vortrag – wie in meinen besten Zeiten.«
Benny hatte keine Schwierigkeiten, fortzufahren. »Sie müssen es sich so vorstellen: für die Nanotechnologie ist in einem implantierten Zahn so viel Platz wie für die erforderliche Kontrollausrüstung im Tower eines Großflughafens. In einer einzigen Krone kann man zahlreiche Komponenten unterbringen: Energiespender und Thermometer; Sensoren und Riecher aller Art für Mikroanalyse und Diagnostik; Detektoren und Alarmanlagen für Fette, Zucker und Säuren, dazu drug delivery, stress support, vigilance. Von diesem Zentrum aus erfolgt die Übertragung: Wir lesen Signale auf dem Bildschirm und hören voice messages – alles auf einem Empfangsgerät, das wie eine Armbanduhr an unserem Handgelenk befestigt wird. Nein, besser noch: Es ist eine Armbanduhr – allerdings ein Exemplar mit einem Angebot an Funktionen, das die Vorstellungskraft von Rolex total überfordern würde. Mit einem Seitenblick aufs Handgelenk kontrollieren und steuern wir den Verkehr in unserer Mundhöhle, immerhin der wichtigsten Öffnung unseres Körpers.«
»Einspruch! Das würde ich so nicht akzeptieren; es ist nur die Körperöffnung, in die ihr Zahntechniker ungeniert eindringen dürft …«, unterbrach der Psychoanalytiker wieder mit vollem Mund. Aber da konnte sein Neffe sowieso nicht mehr weitersprechen – ein Knattern und Flattern auf der Wiese hinter Bennys Rücken lenkte die tafelnden Festgäste endgültig von seinem Vortrag ab.
»Dort landet Gabriel!«, rief Treugott und zeigte in die Richtung der Geräusche.
»Das also ist es gewesen! Dieses Ereignis haben wir vorausgewusst, unser Gebell hat es angemeldet!«, verkündete Siegmund Rohr. »Brav, Lumpi! Gut gemacht!«
»Ich war mir ja sicher, dass mein Enkel mir die Freude machen würde! Wisst ihr, das ist sein Geburtstagsgeschenk an mich«, erklärte Clementine, die noch gar nichts gesehen hatte, in die allgemeine Aufregung hinein. »Gelt, ihr alle, da schaut’s vielleicht, wie an meinem Geburtstag auf einmal ein Erzengel als mein Gast vom Himmel herunterkommt!«
»Und was wird er unserer Jungfrau verkünden, vom Himmel her, der Erzengel am Paragleiter?«, fragte Siegmund.
»Geh, übertreib nicht, Sigi. Nur eine Botschaft von Olga Rebikoff, von meiner guten alten Freundin, die mir vorausgegangen ist.
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