Scherbengericht: Roman (German Edition)
indessen hatte trotz Clementines Eingreifen den Kern der Geschichte Gabriels noch mitbekommen und darauf reagieren müssen. »Eine Kastration coram publicowäre wohl krasser gewesen«, warf er hin, und seine blauen Augen wechselten, blitzend vor Belustigung, zwischen Clementine und Gabriel hin und her. Doch nur Martin lachte kurz auf. »Das musst du mir später noch einmal erzählen«, sagte Elias vertraulich zu Gabriel.
Seinen Vater hatte Gabriel nach der kalten Begrüßung nicht mehr angeblickt, obwohl er ihm direkt gegenübersaß. Er richtete das Wort demonstrativ nur an den Psychiater: Ja, spotten könne man über alles, doch er, Gabriel, habe seine Gründe, H.-H. Futterer auch dankbar zu sein. Der Meister habe ihm dazu verholfen, sein Dasein ertragen zu können. Denn es sei ja im Grunde unverantwortlich, einfach so, bei vollem Bewusstsein, aus dem Feuchten eine Kreatur zu zeugen und jemanden mit dem Leben zu konfrontieren, einen, der seinerseits lebensbewusst werden muss und bei wachsendem Bewusstsein auch bald erkennt, dass er schon wieder seinen Weg in die anorganische Auflösung angetreten hat. »Wenn die auf solche Weise entstandene Kreatur nicht unter diesem fundamentalen Widersinn leidet, kann sie eigentlich nur blöd sein.«
»Echt gut, Gabo!« Katha suchte mit der Hand, an Oma vorbei, Kontakt zu ihrem Bruder. »So etwas Ähnliches hab ich auch geschrieben.«
»Gott bewahre uns vor deiner Literatur!«, wehrte die Oma ab.
Aber Gabriel war noch nicht fertig: »Mir sind alle, die das Leben so ohne Weiteres lebenswert finden und anpreisen, zutiefst suspekt und widerwärtig. Wie kann man das leugnen: Es ist doch nichts als ein kolossales Unglück, in das man uns ungefragt ausgesetzt hat!« Ein strafender Seitenblick Gabriels strich wie zufällig über den Vater hinweg. Im Gesicht des Psychiaters aber hatten sich nun alle Falten zu einem Fangnetz verknüpft. »Und am Widerwärtigsten sind mir die Verfechter der sozialen Harmonie!«, fuhr Gabriel fort – »diejenigen, die mit der Lügenpredigt von der Gleichheit aller Menschen einen Notausgang für das friedliche Zusammenleben der Erdenbürger beschwören und uns glauben machen wollen, ein harmonisches Miteinander aller Geborenen sei möglich. Dabei sind doch sämtliche Konflikte, Gewalttaten und menschenfeindliche Handlungen auf dieser Welt nur die natürliche Folge unseres begründeten Entsetzens – nämlich darüber, dass wir in diesem unerwünschten Leben zusammen mit unerwünschten Leuten bis zu unserer unerwünschten Auflösung ausharren müssen!«
»So also hält man es jetzt mit der Lebenslust bei dem Herrn Futterer und seiner Bruderschaft?«, fragte der Psychiater, anscheinend überrascht.
»Nein, nein, doch nicht so! In puncto Lebensbejahung ist zwar auch Futterer nichts als ein Schleimer. Aber er hat jedem von uns wenigstens klargemacht, dass man uns nicht nur verantwortungslos im Leben ausgesetzt hat. Nein, man hat uns anschließend auch noch Gedanken in den Kopf getrichtert, damit wir sklavisch und friedlich im Sinn unserer Erzeuger leben, also ein Leben aus zweiter Hand führen. Und diese doppelte Vergewaltigung ist es, die uns unweigerlich krank macht. Daraus immerhin will und kann uns Futterer befreien: durch seine Methoden des intensiven Zusammenlebens unter Brüdern und Schwestern und nicht zuletzt durch viel Sex. Damit kommt wenigstens etwas Daseinsgenuss auf.«
»Und ob!«, stimmte ihm der Onkel Elias lebhaft zu und schaute fragend zu Katha hinüber.
Diese hatte sich wieder an die Oma gekuschelt und allein auf die Stimme des Bruders geachtet, kaum jedoch auf den Inhalt seiner Ausführungen. Wie lange hatte sie diese vertraute Stimme entbehren müssen! Sie genoss es einfach, dem Klang von Gabo zu lauschen. »Oma, wir sind wieder alle beisammen bei dir, Papa, Gabo, ich. Wie schön, wie schön – wenn Mama das sehen könnte!«
»Ja, ja«, kam es noch einmal von Gabriel, indem er sich im Baumschatten umsah, »der nostalgische Affe im Menschen verleitet ihn dazu, sich wenigstens unter den Bäumen, wie hier, wohlzufühlen.«
»Recht so, Gabo, der ewige Gorilla im Menschen«, stimmte ihm die Schwester begeistert zu. »Du musst wissen, wir haben gestern das Szenario der Geburt der Evolutionstheorie durchkreuzt.«
Die Greisin blies aus dem linken Mundwinkel gegen die lästigen krausen Haare ihrer Enkelin, die sie an der Wange kitzelten. »Das geht zu weit«, war ihr bewusst, aber sie wusste nicht, was. Mit einem Ausdruck der Empörung
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