Scherbengericht: Roman (German Edition)
Sie erwartet mich bereits.«
Katha war aufgesprungen und rannte zur Rasenfläche. Eben landete dort, die Beine vorausgestreckt, dann strauchelnd und hüpfend, ihr Bruder. Die Geschwister umarmten einander im Gewirr der Gurte und Schnüre und stürzten unter lautem Begrüßungsgeschrei Kathas gemeinsam zu Boden. Dort wälzten und balgten sie sich wohl eine Minute lang im Gras herum, bis sie völlig in den Seilen verstrickt waren. Benny, der beim Militär viele Fallschirmabsprünge absolviert hatte, trat hinzu, half ihnen auf die Beine und aus der Verflechtung heraus. Katha zog ihren Bruder, nachdem er sich auch von den Gurten befreit hatte, fröhlich an beiden Händen unter den Lindenbaum.
Dort wartete schon die Jubilarin und spendete Lob. »Das ist ein herrliches Geburtstagsgeschenk, du Guter«, wiederholte sie mehrmals. »Und schneidig dazu!« Und an die Tischrunde gerichtet: »Das Fliegen hat er bei uns in Österreich gelernt, am Attersee!«
Dann begrüßte Gabriel zuerst Dr. Königsberg, der mit lebhaftem Mienenspiel die gelungene Überraschung rühmte. Martin war aufgestanden, locker und mit frohem Gesicht, zur Umarmung bereit. Gabriel aber streckte dem Vater nur andeutungsweise die Hand hin, mit gespreizten Fingern eher abwehrend und mit einem Blick, der nur als feindselige Kenntnisnahme empfunden werden konnte. Katha war an ihren Platz zur Linken der Jubilarin zurückgekehrt und merkte davon nichts. Nachdem Gabriel alle anderen begrüßt hatte, ließ er sich von der Oma an ihre rechte Seite befehlen.
»Von Elias hab ich heute schon genug gehört. Komm, mein Guter! Weißt du, gerade hat uns dieser israelitische Zahntechniker über den Zusammenhang zwischen dem New Yorker Flughafen und einem Gebiss erzählt, und da kommst du heruntergeflogen. Na weißt du …!«
»Und wir, junger Mann, haben Ihre Ankunft genau vorausgesehen und durch unser Bellen annonciert. Die reine Telepathie!«, ergänzte Siegmund. Sein Blick bettelte geradezu um ein Zeichen der Anerkennung in dem schönen gebräunten Gesicht von Kathas Bruder.
Gabriel schaute die beiden Greise verständnislos an. Er entfernte den strassbesetzten Gummiring aus seinem Haarschopf, schüttelte den Kopf und ließ die lange schwarze Lockenpracht auf seine Schultern fallen. Siegmund folgte bewundernd den Bewegungen des himmlischen Ankömmlings. Inzwischen hatte Treugott versucht, so langsam und unauffällig wie möglich aufzustehen; Benny, der sich für den Gleitschirm interessiert hatte, kam gerade zurück und half ihm auf die Beine.
»Treugott, Mary had a little lamb, das vom Schöpfer bestimmt nicht zum Schlachten vorgesehen war, aber dein armes Opfer will ich mir nun trotz allem wenigstens ansehen«, sagte er, wobei er ganz unaufdringlich den Hinkenden auf dem Weg zum Grillplatz stützte. Dort assistierte er ihm auch beim schwierigen Ablösen der Rippenportionen und schichtete diese auf dem Brett seines Gastgebers zurecht. Wieder zurück an der Tafel, übernahm Benny sogar das Verteilen der Fleischportionen. Und unter dem Tisch bekam der Intellektuelle und Telepath seinen Knochen ab.
Inzwischen hatten sich alle auch an den Salaten bedient, und Elias Königsberg wiederholte Rotraud gegenüber seine schon oft bezeugte Begeisterung für ihren Kipflerkartoffelsalat.
»Dieses Lob muss ich mir aber mit meinem Südtiroler Schwiegervater teilen«, pflegte sie dann immer einzuschränken. »Er hat Trigo auf diese ideale Salatkartoffel aufmerksam gemacht und ihn sogar noch beim ersten Anbau beraten können. Und meine Mutter hat mir ihr mährisches Salatrezept verraten. Das ist gar nicht so einfach, wie man glauben möchte.«
»So kommt diese Schlemmerrunde hier im fernen Patagonien auch noch in den Genuss der kulinarischen Erbschaft der Donaumonarchie«, krönte Elias sein Urteil.
Gabriel hatte auf die Frage seiner Großmutter, wie er denn die Silversterfeier verbracht habe, sofort damit begonnen, seiner Erbitterung und seinem Ekel über H.-H. Futterers Selbstverstümmelung Luft zu machen. Aber sobald er in die Einzelheiten gehen wollte, krallte sich die Oma, so energisch sie es immer noch konnte, in seinen Arm. »Bitte keine Schweinigeleien hier an unserem Tisch, Gabriel!«, gebot sie ihm in vertrauter Strenge, und er schwieg sogleich gehorsam, nahm sich drei Rippenstücke auf einmal und schaufelte eine große Portion des Kipflerkartoffelsalats auf seinen Teller. Auch Wein konnte er endlich wieder genießen – nach über zwei Jahren!
Dr. Elias Königsberg
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