Scherbengericht: Roman (German Edition)
Tagen werde er noch ausführlich mit Treugott darüber sprechen und um seinen Rat bitten.
Sie sahen Gretl in Begleitung von Sarah und Benny zur Festtafel kommen und bald darauf Rotraud aus dem Haus treten. Auf einem Tablett balancierte sie mit angewinkeltem rechtem Arm in Schulterhöhe ein Spinatsoufflé in Form eines Guglhupfs. Aufmerksamkeit heischend mimte sie einen tänzelnden Kellner und kündigte an: »Für meine Vegetarier!« Trigo rief ihr zu, in etwa einer Viertelstunde könne er die erste Runde Fleisch servieren – »also seid’s rechtzeitig zu Tisch, allesamt!«
Dann wandte er sich wieder dem Herrn Doktor zu und erklärte ihm: Das Servieren, wie das ihm vorausgehende Tranchieren, bestehe aus einer genau festgelegten Folge von drei Schritten. Zuerst, aus der Schulter geschnetzelt, ein paar mürb-weiche Bissen. Dann trenne man die Rippchen mit dem ihnen anhaftenden, fasrig-dünnen Fleisch nebst ihrer Kruste ab; die seien besonders kross und schmeckten würziger. Und schließlich, aus der Hinterkeule gelöst, saftige Happen mit dem reinsten Lammaroma, in dem sich alle Essenzen der Hochlandweiden zusammenfinden. Beim Zerlegen sei stets auf die Stränge der Muskulatur zu achten; man säbelt nicht einfach lustig herunter. Das Zerteilen in einzelne, in jedem Fall immer kleine Portionen, erfolge erst auf der Holzplatte, und davon wähle sich dann jeder etwas – auf Wunsch vom Grillmeister beraten – für seinen Teller. Anschließend stehe es natürlich jedem frei, je nach Lust und Begehr die ganze Reihenfolge – oder einen besonders genossenen Abschnitt derselben – zu wiederholen.
Treugott hielt ein. Seine ortsvertraut geschärften Sinne hatten im Mittagsglast einen fremden Vogel, eine Luftbewegung oder einen flüchtigen Schatten wahrgenommen. Er deutete suchend nach oben: Dort war unter der Sonne soeben ein blauer Paragleiter aufgetaucht. Vor den Felswänden des Piltriquitrón schaukelte, zwar noch fern, aber gut erkennbar, eine hockende Gestalt unter einer weit gespannten, bananenkrummen Tragfläche herunter. »Das ist Ihr Sohn, Doktor! Am Berg holt er sich den starken Aufwind, und schon in ein paar Minuten könnte er bei uns landen.«
Beide winkten mit weit ausholenden Armbewegungen hinauf, aber der Paragleiter schien sie nicht zu sehen oder zu beachten.
Unter der Linde waren Gretl und die Krohns eingetroffen. Katha, in ihrem Bericht für Clementine gerade erst bei Docksiders gewaltigem Auftauchen aus der Meerestiefe angelangt, wurde durch das einsetzende Begrüßungsgemenge unterbrochen und aus dem Konzept gebracht.
»Was du nicht sagst, mein Kind – aber hör jetzt bitte einen Moment lang damit auf«, schnitt ihr die Oma das Wort ab. »Diese Jüdin versteht ja kein Wort Deutsch.«
Als Gretl den goldbeknöpften Blazer Siegmund Rohrs (denn mehr mochte sie von ihm nicht wahrnehmen) ihrem Neffen Benny Krohn und dessen Ehefrau Sarah vorstellen wollte, gelang es ihr gerade noch »Der da … Rohr« herauszuwürgen. Der so Angesprochene erhob sich umständlich, kam nach einigem Wanken stramm zu stehen, zupfte an seinen Ärmeln und stellte sich ganz förmlich vor. Sarah gegenüber fiel er in ein hartes, aber fehlerloses Englisch und bot ihr ein zackiges Kopfnicken mit angedeutetem Handkuss: »Wir sind Siegmund Rohr, Hotelier im Ruhestand, und Lumpi, Dackel.« Worauf er noch hinzufügte: »Sie kommen aus Jerusalem, nicht wahr? Bin schon im Bilde!«
Bei dem Klang der Heiligen Stadt aus dem Munde Siegmunds zuckte Gretl zusammen. Schnell nahm sie den trennenden Platz zwischen Benny und Rohr ein. Sarah setzte sich Katha gegenüber; die beiden wollten sich auf Englisch unterhalten.
Als Siegmund Rohr wieder Platz genommen hatte, beugte sich Clementine mit einer vertraulich geflüsterten Mitteilung über den Tisch hinweg zu ihm vor: »Sigi … dieser Krohn ist Zahntechniker. Heute können wir sorglos zubeißen. Toi, toi, toi!« Katha beobachtete, wie Omas knöchriger, zitternder Zeigefinger dabei auf die altersfleckige Hand mit dem türkisblauen Wappenring tippte.
»Ihr seid also doch ein Liebespaar!«, triumphierte die Enkelin. »Klasse! Ich hab es vorhin schon im Auto dem Herrn Roth angesehen. Er ist auf meine Entdeckung hin rot angelaufen, besonders seine abstehenden Ohren.«
»Was sind das nur wieder für freche Ausdrücke, mein Kind!« Clementine lehnte sich zurück und gab der Enkelin einen neckischen Klaps auf den Arm. »Oder hat sie vielleicht recht, Sigi …? ›Geh sag doch, sag doch Schnucki zu
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