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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Wiener und einer Hamburger Agentur – schickte die Erste nur Brief und Bild einer früh verwitweten Bauersfrau aus Tamsweg, mit Kropf und verhärmtem Gesicht, und die Hamburger mehr als ein Dutzend Lebensläufe, Fotos, handschriftliche Briefe mit Fragen zum patagonischen Alltag, nach Treugotts Verhältnis zur Religion, seinen Hobbys und Sportinteressen. Er war damals ein ortsbekannter Mittelstreckenläufer, aber von seinem kürzeren Bein und dem kleinen Buckel sagte er nichts. Auch sein obsessives Verhältnis zu Radio Habana blieb unerwähnt.
    Zusammen mit der Mutter hatte er mehrere Abende hindurch das gesamte empfangene Material auf dem Küchentisch ausgebreitet. Zwei Bewerberinnen waren zuletzt in die engste Wahl der Mutter gerückt, und schließlich entschied sie sich für Rotraud Kretschmer in Bochum. Die hatte geschrieben, sie lebe in dieser Industriestadt mit ihren Eltern, vertriebenen Bauern aus Neutitschein in Nordböhmen. Ihr Vater sei ein einarmiger Kriegsversehrter, der bei der Post arbeite. Er müsse jeden Morgen eine rötliche Staubschicht von seinem Opel Kadett wischen, so schlecht sei hier die Luft. In Westdeutschland verspreche man ihnen stets Entschädigungen für den verlorenen Hof, aber in letzter Instanz gebe man in Bonn doch den Tschechen recht. Sie wolle weit weg von dieser doppelzüngigen Bundesrepublik leben. Sie habe gehört, die Argentinier seien deutschfreundlich und hassten die Kommunisten. Und nach nichts sehne sie sich mehr, als wieder auf einem Bauernhof zu leben, selbst wenn niemand wisse, wo der lag. In so einer Heimat sei sie zur Welt gekommen, jetzt aber habe sie nur Bochum und den roten Staub.
    Mein Gott, wie die Rotraud Kretschmer dann so zart und blass in Buenos Aires aus dem Flugzeug gestiegen war, begann Treugott, der gekommen war, um sie abzuholen, sich zu ängstigen: Ob die Mutter und er wohl die richtige Wahl getroffen hätten? Auch die Mutter musterte das Flüchtlingskind bald darauf mit zweifelndem Blick. Aber geradezu explosiv verwandelte sich das zuerst kümmerlich wirkende Aschenputtel aus dem Ruhrgebiet in ein dralles, stets lustiges Bauernmädchen, in ein herumwirbelndes, heiter hüpfendes, von Lachanfällen geschütteltes Weibsbild – mit einer weithin schallenden Stimme, die im Morgengrauen beim Kuhmelken mit einer Art Jodler einsetzte und beim spätabendlichen Zählen, Prüfen und Ordnen von Geldscheinen, Schecks, Rechnungen, Bestellungen und Briefen in einem dunkel summenden »Hmm hmm hmm hmm!« ausklang. Ein kurioses Stigma hatte sie allerdings nach der Geburt ihres letzten Kindes, des Buben Quique, befallen – und war ihr bis heute, mit ihren fünfundfünfzig Jahren, geblieben: ständig entsickerte ihren Brüsten etwas Milch. Zwei Feuchtigkeitsflecken, umgeben von einem etwas größeren Hof getrockneter Flüssigkeit, zeichneten sich auf ihrem roten Dirndlkleid oder auf ihren Blusen über den Nippelkuppen ab. Treugott bemerkte nie etwas dazu; Rotraud hatte ja auch niemals ein Wort über sein Bein und seinen Buckel verloren.
    Um die Farm herum stand eine Doppelreihe von Pappeln, Eichen, Eschen, Ahornen, Ulmen und Edelkastanien, mit Bedacht durchmischt. Die Verfärbung all dieser Laubbäume bot jeden Herbst einen farbenprächtigen Anblick, weshalb Treugotts Anwesen sogar in den Fremdenverkehrsbroschüren der Region hervorgehoben wurde. Durchreisende bogen schon gern einmal zum »Herbst-Erlebnis auf der Chacra El Tilo« von der Fernstraße ab, und Seniorengruppen, die in der preisgünstigen Nachsaison in der Umgebung Urlaub machten, wurden im Kleinbus heraufgefahren. Der Chauffeur hatte Anweisung, bereits auf der ansteigenden Schotterstraße das »Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande« aus Beethovens Pastorale einzuschieben – was auf eine Anregung des Stammgasts Dr. Elias Königsberg zurückging. Im Mittelpunkt dieses Panoramas stand im zitronen- und goldgelben Laubschmuck die stattliche Krone des Lindenbaums. Dr. Königsberg, der mit seiner Gretl einmal erst im Spätsommer gekommen war – als er in seinen Erinnerungen den ausufernden Abschnitt »Meine Kindheit und Jugend in Fürth« abzuschließen gehofft hatte –, ließ sich zu dem Baum ein kleines Gedicht einfallen, das prompt sämtlichen deutschsprachigen Sommergästen (und deren logierten viele bei Laglers) vorgelesen wurde. Und welchem naturverbundenen Herzen stand dieser Lindenbaum nicht nahe? Schon an den Abenden in der frühsommerlichen Vorsaison, benebelt vom schweren Duft

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