Scherbengericht: Roman (German Edition)
einen schuhsohlenhohen Riss, hatte dieses Leben doch. In der Schule gab es derben Spott und plumpes Nachahmen – mit der unvermeidlichen Ausgrenzung. Selbst als Torwart luden sie Trigo nicht zum Fußballspiel ein, und auch später noch, als er wieder Anerkennung gefunden hatte, mochte keine mit ihm tanzen. Sogar dem Vater konnte, wenn er über den Buben in Wut geraten war, anfangs ein »du Krüppel«, oder, höhnischer, »du Hatscher« entfahren. Treugott besuchte nur die Grundschule, dann blieb er zu Hause und arbeitete hart wie ein Erwachsener.
Ganz von allein begann er ein eifriger Leser zu werden, hauptsächlich von Fachzeitschriften und Büchern über Fragen des landwirtschaftlichen Betriebs, der Forstwirtschaft und der Holzverarbeitung. Später interessierte er sich auch für Agrarpolitik, alternative Landwirtschaft und die Zukunft des Bauernstands. Für diesen sah er nichts Gutes voraus: Der hing ihm zu sehr von der Kreditwirtschaft und dem schnellen Technologiewandel ab; beide unterlagen anderen Gesetzen als die naturabhängige Landwirtschaft. Etwas später – der Vater hatte ihm schon seinen letzten Kurzwellenempfänger überlassen – geriet er in eine Sendung über die Agrarrevolution. Da sprach jemand mit bohrender Eindringlichkeit, unendlichen Zahlenreihen und nicht enden wollender Ausführlichkeit über die Probleme der Landwirtschaft, für die er denn auch radikale Lösungen parat hatte. Trigo merkte sich die Wellenlänge und wurde nach und nach geradezu süchtig nach Radio Habana . Wenn Dr. Holberg alle paar Jahre einmal aus der kapitalistischen Ersten oder aus der ausgebeuteten Dritten Welt kurz zu Besuch auf die Chacra El Tilo kam, um mit seiner Mutter zu feiern, richtete Treugott ein paar Fragen an ihn. Das hatte ihm Frau Clementine geraten, wenn er wieder einmal eine Weisheit von Radio Habana preisgab. »Da frag lieber meinen Sohn«, sagte sie dann und ging nicht weiter auf das Thema ein. Besonders der »Hunger in der Welt« machte ihm zu schaffen. Im Rundfunk, und später auch im Fernsehen, wurde gelegentlich darüber berichtet. Die Zahlen und Reportagen erschienen ihm erbarmungswürdig; die Jahre vergingen, der Hunger blieb. Von Dr. Holberg wollte er wissen, warum Länder, in denen die Bevölkerung Hunger leidet, Lebensmittel ausführen müssten; warum man zulasse, dass sich in Ländern, in denen Hunger herrscht, bodenraubende Monokulturen ausbreiteten, die die bäuerlichen Betriebe ruinierten; und wie es Regierungen – und die Herrschenden überhaupt – schafften, über Jahrzehnte hinweg an der Macht zu bleiben, obgleich sie die Grundprobleme eines großen Teils ihrer Landsleute nicht einmal zu lösen versuchten. Die Antworten von Frau Clementines Sohn waren nie sehr überzeugend gewesen, und manchmal hatte der Dr. Holberg es einfach aufgegeben und zu ihm gesagt: »Treugott, als Stammhörer von Radio Habana müsstest du das eigentlich besser wissen als ich.«
Aber zurück zum Sport! Kaum dem Spießrutenlauf des Schulbetriebs entronnen, übte sich der Bub, wenn niemand ihn beobachten konnte, als Läufer – ein wahres Spurten, in dem er die zunächst noch erforderlichen, hopsenden Ausgleichsbemühungen nach und nach zu unterdrücken versuchte. Dies gelang ihm –, wobei blinde Wut auf sein Manko die für das eiserne Training nötige Willenskraft beflügelte. Damals hörte er zum ersten Mal den Anfeuerungsruf einer inneren Stimme, die ihm etwas befahl: »Ernst machen, umbringen!« Er war sich nicht klar, wem diese Worte galten. Ihre nackte Aggressivität passte nicht zu seiner Natur. Aber wenn er an sein Bein dachte, wenn er rannte, beflügelte es ihn eben, und als er später die Entwicklung seines Sohnes Quique miterleben musste, standen die Einflüsterungen in ungeheuerlichem Einklang mit verzweifeltem Wunschdenken. Ohne es wirklich zu wissen, hatte Frau Clementine schon recht, wenn sie ihm aus nichtigem Anlass vorwarf: »Treugott, du hast keinen Humor!« Nein, hatte er nicht. War ihm vergangen.
Drei Jahre nach dem Schulabschluss meldete er sich bei einer Kirmes im Ort zum Tausend-Meter-Lauf – zur Überraschung und dem Spott der einstigen Mitschüler. Erstmals traf er sie alle wieder, und einige von ihnen waren ebenfalls am Start. Ernst machen, umbringen. Trigo wurde Zweiter, und man feierte ihn lauter als den Sieger. Das war Balsam. Als es ihm später gelungen war, die Stimme von Radio Habana , die ihn so beeindruckt hatte, zum Verwechseln nachzuahmen, machte er sich einen Heidenspaß
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