Scherbengericht: Roman (German Edition)
daraus, mit seinem Vortrag die früheren Schulkameraden – jetzt lauter Farmer und Unternehmer – zu ärgern. Er genoss einfach den provozierenden Unterhaltungswert seiner Parodie.
Die sportliche Selbstquälerei musste mit der Zeit sein Hüftbein und seine Oberschenkelknochen beschädigt haben. Denn bald nach der Pubertät kamen und gingen die Schmerzen – kamen immer öfter und gingen immer seltener. Es konnte auch vom Wetter abhängen, von der Anstrengung im Tagwerk, vor allem von der Arbeit mit der Motorsäge oder dem Spaten, vom Tischlern und Säckeheben, oder davon, ob er zu den Bienenstöcken hinaufgestiegen war und sich dort, gebückt und vorsichtig, viele Stunden betätigt hatte – so ziemlich von allem also, was ein Farmer ohne Fachkräfte hier verrichten musste. Trotzdem, oder gerade deshalb, forderte er ständig jeden, der auf den Hof kam, zum Wettlauf heraus: durch die Nussbaumallee, diese Auffahrt vom Hoftor bis zum Vorplatz, hin und zurück – also zu etwa siebenhundert Metern. Das galt mit den Jahren als sein feststehender Spleen: Gäste, Arbeiter, Handwerker, Geschäftsreisende und Fernlastfahrer jeden Alters, manchmal auch Frauen (die aber selten einwilligten), wurden herausgefordert, und der hinkende Hausherr, der sie mit einer verlegenen Bitte dazu eingeladen hatte – und dem sie es, angesichts seiner Behinderung, nicht abschlagen wollten –, genoss anschließend seinen Überraschungssieg. Als Rotraud auf die Farm gekommen war, frisch aus der Bundesrepublik, hatte sie zuerst versucht, ihm diese Herausforderungen auszureden und später nur gebeten, wenigstens die unvorbereiteten Senioren-Urlauber aus der Stadt zu schonen. »Du wirst noch an ihrem Herzinfarkt schuld sein, und wir verlieren unsere Gäste!«, warnte sie ihn mit ihrem glucksenden Lachen.
Mit achtundzwanzig hatte Treugott seine Eltern auf ihrem ersten und einzigen, lang ersehnten Heimatbesuch begleitet. Er entdeckte, dass die Dolomiten keineswegs so gewaltig waren wie in den Geschichten des Vaters, und dass seine patagonischen Anden es durchaus mit ihnen aufnehmen konnten. Die meisten Versuche von Wastl, Lina und Treugott, Onkel oder Tanten zu besuchen, endeten auf Dorffriedhöfen, und die überlebenden Vettern, Basen und Jugendfreunde verhielten sich wortkarg, schielten zum Fernseher hinüber und schimpften über die »Walschen«, die Italiener – gar nicht viel anders als die Mitteleuropäer in den Anden über die einheimischen Chilenen und Argentinier. Kein Mensch interessierte sich für Quemquemtréu in Patagonien, keiner wusste, wo das lag, und keiner wollte auch nur das Geringste über diesen entlegenen, unbekannten, zungenbrecherischen Ort erfahren – nicht einmal über den Tilo-Hof, und erst recht nicht, wenn der Lagler Wastl mit den Worten anhub: »Ich hab dort fünfzig Hektar …« Es lag etwas Eingeschnapptes in ihrem Verhalten. Die Neffen und Nichten fuhren winzige Fiat-Autos und waren Fans von italienischen oder österreichischen Fußballklubs. Einmal wurden die Heimatbesucher von einer Nichte zu Tiroler Speckknödeln eingeladen: Die Brühe war mit Suppenwürfeln zubereitet, die Knödel kamen aus einem Plastikbeutel. Da es Sommer war, blieb es Treugott erspart, sich als unbeholfener Skifahrer zu blamieren. Das ermutigte die Mutter, ihren großen Lackl zur Brautschau anzutreiben: Er sei ja bald schon dreißig und immer noch ledig, schlimm für einen Hoferben. »In Quemquemtréu werfen sich die hiesigen Schlampen an deinen Hals.« Sie warnte ihn: »Solche kommen mir nicht ins Haus!« Aber den Familien im Grödnertal ging es längst nicht mehr so schlecht wie einst zu Mussolinis Zeiten, ihre Töchter bevorzugten das Stadtleben – und sei es als Hausgehilfin bei einem Arzt in Innsbruck.
Immerhin, zwei weitreichende Anregungen hatte der junge Treugott von dem Besuch in der Heimat seiner Eltern nach Patagonien mitgebracht: das Geschäft mit den Sommerfrischlern – wie das in den Alpen florierte! – und den Rat eines Vetters, sich doch eine Ehepartnerin über eine Agentur zu suchen. Für beides hatte er sofort tatkräftige Unterstützung bei der Mutter gefunden. Sie bauten zwei Zimmer an das Wohnhaus an, später wurde sogar ein eigenes Gästehaus errichtet. Bald waren die Sommermonate ausgebucht, viele Wochen mit Gästen, die sich so wohl und so gut verköstigt fühlten, dass sie alljährlich wiederkommen wollten, wie die Holbergs und die Königsbergs. Und von den beiden angeschriebenen Heiratsvermittlungen – einer
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