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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Spitze, keine Vertiefung – es überließ ihn voll und ganz der Einsamkeit mit seiner Tochter. Wenn doch alles zu Ende ginge, dachte er, und wollte den Satz nicht weiterdenken.
    Sagen, reden, sprechen … Vom Wortmüll, vom Sprachschrott, vom Sprechschutt handelten in letzter Zeit immer öfter seine Gespräche mit Dr. Königsberg. Martin hatte den Eindruck, dass sie sich beide im Verlauf dieser zwei Jahre verändert hatten, und zwar insofern, als sich ihre Überlegungen aufeinander zubewegten. Erst hatte der Therapeut ihm die Zunge gelöst, ihn dann aber an die Kette gelegt mit seinen destruktiven verbalen Angriffen, und Martin hatte begonnen, sich von seinem Diskriminierungskomplex, einschließlich seines »Antisemitismus-Keims«, erlöst zu fühlen; Letzterer erschien ihm jetzt »entpuppt und abgehalftert wie ein exorzierter Götze«. Zusammen durchwandelten Martin und der Arzt das merkwürdig befreiende Labyrinth der Wortverdächtigungen. Begriffe beanspruchten ja das Kleid der vermeintlichen Normalität, aber auch der Kranke benutzt sie – und man verdächtigt ihn, als wären sie ihm verboten gewesen.
    In die Schneelandschaft hinein sprach die Stimme von Dr. Elias Königsberg: »Wir müssen uns von unserem Verlangen nach der Alleinherrschsucht über den Wortsinn befreien, wenn wir dem willkürlich Ausgesperrten, dem vermeintlichen Transgressor zuhören, ihn verstehen und ihm helfen wollen. Stellen wir doch versuchsweise einmal all das in unserem Kopf auf den Kopf, was sich als geltende Norm und Vernunftzwang in uns eingegraben hat! Wagen wir wenigstens das Experiment! Lassen wir die verkehrte Welt doch einmal gelten. Tanzen wir einfach, tanzen wir, wie bei Nietzsche, aber mit nackten Füßen. ›Tanzt mit mir in den Himmel hinein‹, will ich meinen Klienten zurufen!« – und er stimmte tatsächlich auch noch die Melodie dazu an. »Tanz mit Katha, Martin. Tanzen ist ein wunderbar wirksames Heilmittel. ›Viel tanzen und viel vögeln, und du hängst jede Neurose an den Nagel!‹, hat mir einst mein Lehrmeister Ernst Bauer geraten.«
    Mit diesem Rezept hatte der Therapeut sich am Ende ihrer letzten Sprechstunde von Martin verabschiedet, es ihm auch noch mit lauter Stimme im Treppenhaus auf den Heimweg mitgegeben, und dabei waren seine tiefen Gesichtsfalten in ein wild beschwörendes Mienenspiel ausgebrochen. Dr. Königsberg und Ehefrau Gretl hatten sich anschließend in die Sommerfrische zu Laglers begeben. Martin fand den angeblichen Ratschlag von Ernst Bauer, auf seine Situation bezogen, reichlich unpassend, auch wenn er wahrscheinlich nicht von diesem, sondern wieder von Fritz Perls stammte.
    Er folgte eine Weile bereitwillig dem schmerzlichen Gesang, dem Katha sich hingab. Mit Erik Satie, der sich auf der Klaviatur so vorsichtig an die Stille herantastete, wäre er wahrscheinlich geradeaus in eine Schneewehe gefahren! Dann würde man sie übermorgen gefunden haben: tot, erfroren, vielleicht umschlungen – und befreit. Erschrocken packte er das Steuerrad fester an, der schwere Mercedes hatte zu schlingern begonnen … Mama, dein neunzigster Geburtstag!
    »Hey, Che, bist du eingeschlafen?« Sein abruptes Manöver hatte Katha aus ihrer Versunkenheit gerissen. Sie schaute sich um: Da waren schon die ersten Bäume, von Stürmen niedergedrückte Zypressen, aufgetaucht; die Schneedecke, längst von kleinen Büschen und Gras durchbrochen, begann zu verschwinden. Immer deutlicher bauten sich vor ihnen die blauen Schatten der Andenkordilleren auf, mit bewaldeten Hängen und verschneiten Gipfeln. Die tiefstehende Sonne blendete, und Katha setzte die Sonnenbrille auf. Martin bewunderte die nun anbrechende, immer üppiger und bunter werdende Landschaft, doch Katha zeigte kein Interesse dafür; nicht einmal die Buchen- und Zypressenwälder, die nun die ins Tal hinunterführende Straße säumten, schienen sie zu beeindrucken.
    »Ich freue mich nur darauf, Gabo wiederzusehen«, sagte Katha leise. »Wie er wohl aussehen mag, nach seinen zwei Jahren in dieser Sekte. Es ist einfach spitze, dass wir endlich wieder zusammenkommen. Vielleicht kann er mir das Paragleiten beibringen, und ich geh mit ihm fliegen. Du hast schon riesigen Schiss vor ihm, nicht wahr, Che?«
    Martin schüttelte den Kopf und sagte wenig überzeugend: »Aber nein, warum denn …?« Dann versuchte er schnell das Thema zu wechseln:
    »Erinnerst du dich noch, Katha, wir hatten doch vor, ein Buch zu schreiben, etwas im Bereich ›Wirtschaftsinteressen der

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