Scherbengericht: Roman (German Edition)
nun einmal war, hatte das im Wien der dreißiger Jahre gar nicht wahrgenommen. Clementine, seine spätere Frau, hatte sich nie auf militante Weise geäußert, aber später, in gelegentlichen Seitenhieben und Randbemerkungen, hörte der kleine Martin eben nicht nur von marodierenden Indianerhorden: hinzu kamen nun die Proleten, die Roten, die Gelben, die Juden, die Neger, die Zigeuner, die Türken, die Tschechen, die Slawen, die Hiesigen … eine Bagage (die Mutter sagte »Bagaasch«), die den Lebensraum, die Arbeit und den mühsam erworbenen Besitz ehrbarer Bürger bedrohe. Sie würden allesamt zunehmend zu einer Gefahr für die viel zu großzügige Einwandererrepublik Argentinien, behauptete sie öfter. Und zu seinem Vater hatte Clementine in den letzten Jahren gesagt: »Du bist stolz auf die liberale Verfassung, für die deine Vorväter gekämpft haben. So ist diese Republik entstanden, ist aufgeblüht und – wird daran zugrunde gehen.« Was aber hatte Martin von Dr. Elias Königsberg über die Einflüsterungen in der Kinderstube zu hören bekommen? Nur die frotzelnde Bemerkung: »So, so … Auch Sie haben also entdeckt, dass Sie nicht aus einem besonders harmonischen Milieu stammen?«
Ein Rütteln und Turnen im Fond des Mercedes ließ Martin in den Rückspiegel spähen. Katha hatte schon wieder begonnen, sich auszuziehen. Das aufgelöste Haar fiel ihr über die sommersprossige Brust, sie hatte den Kopf nach vorn geneigt und versuchte sich mit heftigen Schulterstößen aus der Rüschenbluse zu befreien.
»Hey, Che!«, rief sie unnötig laut. »Leih mir doch eines deiner Flanellhemden!«
Seine Klamotten seien im Kofferraum, er müsse anhalten.
»Dann tu das, bitte! Gib mir auch gleich meinen kleinen backpack.«
Martin suchte eine günstige, gut überschaubare Stelle, um auf den Schotterstreifen am Straßenrand auszuweichen. Als er ausstieg, umfing ihn der frische, duftende Wind vom Westen her. Er genoss dieses fruchtige, etwas dumpfe Aroma, das bewässerten Feldern und Auen in der zunehmenden Mittagswärme entsteigt. Da war ein grün-rot kariertes Hemd, wie er selbst eines trug. Mit abgewandtem Gesicht reichte er es, zusammen mit dem Rucksack, Katha in den Wagen hinein. Dann ging es weiter. An seiner Rückenlehne spürte er das Reißen und Stemmen, mit dem sie sich in die engen Jeans hineinarbeitete. Lange Zeit bürstete sie ihr Haar. Als sie damit fertig war, kam sie auf den Vordersitz geklettert. Sie hatte ihre Ballerinaschuhe mit geblümten Chucks vertauscht. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt sie nun das Bruchstück von einem blauen Glas vor ihr rechtes Auge. Wo hatte sie plötzlich nur diese Scherbe her? Von einer Liebfrauenmilch-Flasche? Katha suchte damit die Landschaft ab.
»Toll, wie bei Nacht mit Vollmond, wie schön, Pa!«, wiederholte sie. »Schau, schau, schau …«
»Woher hast du die Scherbe?«
»Die hat mir Evaristo in der Klinik geschenkt. Er hat sie eingeschmuggelt. Du weißt ja, dort gilt, wie im Gefängnis: kein Messer, kein Glas, kein Gürtel. Er wollte mich immer lieben, aber er kam jedes Mal viel zu schnell, vorzeitig … Er wollte sich entschuldigen.«
Sie richtete die Scherbe gegen die Sonne. »Welch eine Farbe! Pa, wir sollten in einer Welt leben, die wir täglich durch ein anderes Glas, in einem anderen Scherbenlicht sehen können. Das wäre eine bunte und einförmige Welt zugleich. Viele Farben zusammen zu sehen, ihrem Widerstreit untereinander folgen zu müssen, das ist störend und verwirrend. Wenn Blau sich ins Grün sehnt, wenn Rot das Gelb verbrennt, wenn Braun von Schwarz verschluckt wird, es kann unerträglich werden. Aber so mal, pur einfarbig, so ist die Welt schön, Pa, wirklich spitze … nur etwas kalt.«
Psychischer Schmerz ist zäh, anhaltend – so viel wusste Martin; aber man erträgt ihn anders, wenn man etwas darüber gelernt hat. Dieses Kind, diese Tochter, diese Frau – wie viele Bruchstücke und Überreste aus einem konventionellen, »normalen« Leben waren ihm noch mit ihr gegönnt? Und was wusste sie von diesen Bruchstücken, wie glaubte oder hoffte sie, damit leben zu können? Das Abdriften eines innigst geliebten Menschen in eine andere Welt mitzuerleben – wie erträgt man das, wie kann man helfen, wenn man selbst schon halb mitgerissen wird? Oder ist das die beste Hilfe?
Manchmal hatte Martin das Empfinden, dass sie das wusste, und dass sie sich noch an Bruchstücke aus einer besseren Zeit festklammerte, in der sie selbst noch ein Ganzes daraus
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