Scherbengericht: Roman (German Edition)
städtischen Gesellschaft und ihre Auswirkungen auf die Umweltpolitik‹?«
Es folgte ein langes Schweigen. Er wollte schon aufgeben, wie vorhin mit dem Bewundern der Landschaft, vielleicht war sie ja nur auf die Musik konzentriert, aber da sagte sie laut und freudig: »Aber doch! Du wolltest den allgemeinen Teil übernehmen und ich sollte das Thema in einer von drei vorgeschlagenen Fallstudien behandeln: japanische Küche und Walfischfang, Tourismus und Gorillas oder Zeitungspapier und Forstwirtschaft. Also wann fangen wir damit an?«
Er war überrascht und wieder froh. Tatsächlich, genauso hatten sie es geplant, allerdings vor mehr als zwei Jahren, als sie ihr Studium abgeschlossen hatte, und kurz vor dem tödlichen Ausgang von Judiths Lungenentzündung. Sie hatte es also nicht vergessen. Und etwas in ihr wollte es noch immer tun.
»Genau! Was meinst du, fangen wir damit an, wenn wir wieder in Buenos Aires sind?«
»Right, let’s take this on immediately. Please, please daddy … Weißt du, ich hatte schon sehr viel Material zusammengestellt, viele Webseiten aufgelistet. Aber dann ist das mit Mama passiert, und gleich darauf das mit Lady Di. Neue, dringende Aufgaben sind auf mich zugekommen, und dann diese Leute, die Interessenvertreter, die mich beobachten, die uns ausspionieren. Tierfolterer, Menschenfolterer, Gehörfolterer. Und die Farben haben begonnen, sich zu verändern, die Umwelt verzerrte sich schon, der Lebensrhythmus ist ein anderer geworden …«
Wie in Weinkrämpfen hemmte ihre Kehle die anfangs beschwingte Stimme; die letzten Worte hörten sich heiser an.
»Es hat ja keine Eile, Kind.« Er legte ihr flüchtig den Arm über die Schulter; dann musste er schalten, denn sie hatten die Ortseinfahrt von Huemules erreicht.
Um halb sieben hielten sie vor dem Bürgermeisteramt. Von dem lebhaften, händereibenden Ing. Jorge Jones – blond, gedrungen, mit geplatzten Äderchen in den roten Bäckchen – erfuhr Martin, dass alles wunschgemäß vorbereitet sei: der Sitzungsraum, die alkoholfreien Getränke für das Gespräch mit den Mapuche-Vertretern, das Abendessen, später etwas Silvesterfröhlichkeit mit Familie und einigen Mitarbeitern. Und natürlich zwei Hotelzimmer für Dr. Holberg und das Fräulein Tochter. Dorthin wollten die beiden sich sogleich begeben.
Wie es denn mit dem Wetter für morgen aussehe, fragte Martin noch besorgt. Strahlende Sonne und wärmere Temperaturen seien für den ersten Tag des neuen Jahrhunderts vorausgesagt: »Ja, so kündigt es sich an – als strahlende Zukunft!« Der Bürgermeister, von Beruf Landvermesser, nebenbei großer Bauunternehmer, freute sich, unentwegt händereibend. Bei jedem Satz schien er sich vor den Angekommenen kurz zu verbeugen. Sein aufgeregtes Entgegenkommen war Martin unerklärlich und stimmte ihn misstrauisch.
6
ROTRAUD
Mit der vollen Emailschüssel war Trigo vorhin aus der Schlachtkammer gekommen, schwankend – wie tapsig er sich an diesem Morgen wieder anstellte! –, sodass er dem Dr. Königsberg, der, eingehüllt in einen weißen Bademantel, am Frühstückstisch saß, mit ungewolltem Schwung den Inhalt unter die Nase setzte. Der Doktor aber hatte sich mit Fassung vorgebeugt und gefragt: »Soll ich etwa aus den Innereien dieses Opfertiers das kommende Jahrhundert deuten?« Da hat sie ihm glucksend zugerufen: »Nein, Dr. Königsberg, das ist für Ihren schottischen Dudelsack, für den ersten Gang unseres heutigen Silvesterschmauses!« Und ihren tolpatschigen Trigo hat sie gefragt, ob er den Magen des Lammes auch gründlich ausgewaschen habe. Worauf Dr. Königsberg sie wieder einmal pries: »Wie schlecht stünde es um uns ohne Rotraud. Ist sie nicht unsere nährende Mutter, unsere Venus von Willendorf?«
Aber ja, sie ahnte es längst, Dr. Königsberg betete sie an. Venus ist sie in seinen Augen. Darum liest sie ihm auch jeden Wunsch von den Lippen ab, darum kocht sie ihm jetzt den Haggis. Erst vorgestern hatte er wieder davon geschwärmt, wie er dieses Gericht einmal zu Silvester in Schottland bekommen habe, fast fünfzig Jahre sei das her, und dazu viel Whisky habe trinken müssen.
»Ich habe diesmal vier Flaschen Glenfiddich im Koffer, man kann nie wissen …«, hatte er am Ende seiner Erinnerungen noch hinzugefügt. Wenn das kein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen war!
Für Gretl aber war das kein Scherz, sondern ein Anlass, ihren Mann zu maßregeln. »Pass mir auf, Eli, mach nur so weiter! Bei dieser Kälte nackte Füße und fette
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