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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Unsicherheit, es bemerkt, dass es dem Spielzeug entwächst, dass es ihm unaufhaltsam fremd wird.«
    »Aber womit kann es spielen, wenn es all sein Spielzeug im Überdruss zerbricht?«
    »Nur mehr mit sich selbst.«
    »Wie dumm das ist, Pa. Ich will bei meinem Spielzeug bleiben.«
    »Ja, Katha, gut so.«
    »Nur nicht nachdenken, Che. Wenn ich nachdenke, vergeht mir echt das Lachen. Nachdenken und Lachen vertragen sich nicht.«
    Martin nickte ihr verständnisvoll zu und fantasierte wortlos mit einem seiner eigenen Gedankenspielzeuge weiter: »Weißt du, Katha, ich halte den Menschen für das Lebewesen, das pro Kopf mehr als alle anderen Dreck erzeugt. Mit der Zeit wird kein Flecken der Erde von seiner zwanghaften Verschmutzungs- und Zerstörungssucht verschont bleiben. Und dennoch, auch das muss ja wohl ein Naturgesetz sein. Stell dir vor, was heute sieben Milliarden Menschen täglich allein an Fäkalienbergen und Urinflüssen ausscheiden, und was sie an Rohrleitungen und Chemikalien aufwenden, um diese Berge und Ströme zu entsorgen! Und welch gigantischer Aufwand ist erst nötig, um die Nahrungsmittelzufuhr zur weiteren Hervorbringung dieser Ausscheidungen zu sichern. Global gesehen, könnte man sich ein Horrorszenario wie in einer Hollywood-Animation vorstellen: Eine schleimige und, wie der Zuschauer errät, stinkende Pampe, die sich über den Globus ausbreitet, ihn umspannt und alles unter sich erstickt, einschließlich deiner Bäume und Wale und meiner Symphonieorchester: ein mörderischer, ja selbstmörderischer Vorgang. Auch das haben Naturgesetze so an sich.«
    Aber zunächst war hier nur meilenweit absolut menschenleere Öde, und durch einen Spalt des Seitenfensters drang kalte, reinste Luft herein – das musste er zugeben.
    Endlich erreichten sie die paar Häuser und Hütten von Las Almas. Roher Backstein und rostige Wellblechdächer, geduckt in eine windgeschützte Mulde auf dem Plateau. An die Mauern waren alte und neue Namen und Symbole von Wahlkandidaten und ihren Parteien gepinselt, mehrmals übermalt, überklebt, verblasst, abgebröckelt. Neben der Tankstelle gab es Hot Dogs und Cola. Es habe oben geschneit, erfuhren sie vom Tankwart, ganz ungewöhnlich für die Jahreszeit – aber so etwas konnte ja zu jedem Ende eines Jahrtausends geschehen, das war vielleicht noch das Wenigste. Oben? Wo gab es auf dieser Hochebene noch eine weitere Höhe, fragte sich Martin misstrauisch. Sie befanden sich doch schon mehr als tausend Meter über dem Meeresspiegel. Martin schlürfte mit Sorge den verkochten Kaffee, und Katha fror in dem weiten Hemd, das im Wind flatterte. Auf die Toilette und weiter.
    Zuerst meinte Martin, die weißen Streifen am Horizont, unter dem wolkenlosen dunkelblauen Himmel, seien Wolkenbänke, aber bald kamen sie an dünn überpuderten Steinköpfen vorbei, dann an schütteren Schneeflecken, und bald lag beiderseits der Straße und neben der schwarzen Fahrbahn vor ihnen eine einheitlich verschneite Fläche, die sich nach und nach wellenförmig zu weit gezogenen Hügeln hin aufwarf und einförmig gleißend in immer ferneren Höhenzügen verlor. Es musste in der Nacht oder sehr früh am Morgen geschneit haben, denn die Straße war bereits frei, wenn auch noch gefährlich nass. Zischendes Fahrgeräusch auf dem Asphalt, weiße Leere rundum. Katha sah durch ihr Glas in eine Mondscheinnacht; bald sprach sie auch von einer Mondlandschaft. Sie legte ermüdet das Glas weg, suchte eine CD im Handschuhfach, schob sie ein, zog die Füße auf den Sitz und streifte das Hemd des Vaters über die Knie. Zusammengekauert umschlang sie ihre Beine. Martin hatte die Heizung aufgedreht.
    Katha schüttelte ungeduldig heftig den Kopf auf Martins Frage, ob sie friere, und legte den Zeigefinger an ihre Lippen: Sie wolle sich in Kurt Cobain versenken.
    Martin fühlte einen Schauer, der mit Unruhe und Angst, und sicherlich schon mit Müdigkeit, untermischt war. Dieses Hineinsteuern in ein leuchtend weißes, leeres Gebiet, das sich, so weit das Auge reichte, ins Unendliche fortzusetzen schien, aus dem ihm aber, wie gestern Abend auf der Peninsula Valdés, kein Fahrzeug mehr entgegenkam, und in dem es nur kälter wurde und kein Wegzeichen mehr eine Ortsbestimmung erlaubte: Das war, als hätte ein Megaprojekt des bulgarischen Verpackungskünstlers Christo Jawaschew über Nacht die Landschaft mit einem Laken überzogen. Was sich darunter erraten ließ, wirkte zusammengesunken, leblos hingebreitet, zeigte keine Kante, keine

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