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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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gern, »und man hat es mir geglaubt.« Rotraud erinnerte sich an nächtliche Strecken auf einem Leiterwagen, an zusammengepferchte Frauen und Kinder unter eisig nassen Zeltplanen, an Verstecke im Unterholz der immer noch verschneiten Wälder, an unverständliche tschechische Kommandorufe in der Ferne, auch an Schüsse, und ganz dunkel und gespenstisch an viele murmelnde oder wehklagende, gleichsam in Nebel gehüllte und herumkriechende Gestalten – wohl im Grenzlager Furth im Wald.
    Vergiss das jetzt: Du hast den Mut aufgebracht und dich auf ein Heiratsangebot aus einer völlig fremden und entlegenen Ecke der Welt gemeldet, hast Bochum verlassen können und alles wiederbekommen, was dir für immer verloren erschienen war – und noch viel mehr! Ja, so war es. Als ihre Eltern sie vor einem Jahrzehnt auf dem Tilo-Hof besucht hatten, war ihnen der Mund offen gestanden. »Mein Kind«, hatten die Mutter und dann der Vater resümiert, »du bist ja eine Gutsbesitzerin geworden – und Großbäurin dazu. Das hättest du bei uns nie geschafft.«
    »Das ist nicht das Wichtigste«, hatte die Tochter lachend erwidert. »Das Wunderbare ist, ich habe hier meine Heimat wiedergefunden.«
    Und Trigo. Einstmals, zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur, hatte sie zur Sicherheit ausstreuen müssen, er sei verrückt: Trigo loco. Und ist er’s denn nicht? Was treibt ihn ständig dazu, den anderen Bauern gegenüber den Fidel Castro zu geben, wie er ihn von Radio Habana her kennt. Er selbst denkt ja nicht im Mindesten daran, den Tilo-Hof mit seinen chilenischen Tagelöhnern zu teilen. Er bringt mit seinen Parodien nur Alt und Jung gegen sich auf und verwirrt das ganze Dorf. Bald wird er einen Rollstuhl brauchen, weil er sich nicht operieren lassen will, dieser Dickschädel. Sie hat sogar schon einen gekauft und vorgehabt, Treugott zum Weihnachtsfest damit eine Freude zu machen, aber Dr. Königsberg, den sie als Arzt konsultiert hatte, riet ihr davon ab, sie solle damit noch etwas warten. Treugott werde sicherlich selbst demnächst danach verlangen, sobald er sich nicht mehr auf den Beinen halten könne. Sie solle das abwarten, der Wunsch müsse von ihm selbst geäußert werden. Mein Gott, Trigo im Rollstuhl, mit dem Radio auf den Knien, und seinen Sprüchen. Würde er es aushalten, so zu leben? Und sie? Ein so herzensguter Mensch, aber eben ein Provokateur, und so eigensinnig. Wenn sie an seine Widerborstigkeit dachte, musste sie sich bemühen, die Erinnerung an sein letztes Schwein zu unterdrücken. Ein riesiger Eber war’s, der unter fürchterlichem Gequietsche von vier Chilenen, die einander Mut zuriefen, und dem begeistert mit anpackenden Quique, in die Schlachtkammer gezerrt wurde. Immer wieder trat Quique mit den Stiefeln gegen die Hoden, die dem sich herumwälzenden Tier zwischen den kotverschmierten Hinterbacken hervorquollen. Und dann hatte Trigo – so unsicher schon auf den Beinen – den ersten Pickelschlag verfehlt und nur die Schnauze des gefesselten Ebers getroffen. Nein, fort, fort mit diesen Bildern …!
    Andererseits, sie wird sich besser um ihn sorgen können, sie werden mehr Zeit füreinander finden, mehr Mensch ärgere Dich nicht, Halma und Mühle spielen können; er wird seine schöne Farm in Ruhe überblicken und genießen dürfen, auf herumlaufende Enkel schauen, wenn die Töchter zu Besuch kommen. Nur den Sohn muss sie von ihm fernhalten: Quique soll in die Ortschaft hinunter, mit ihm ist es nicht mehr auszuhalten. Wie er damals den verfehlten Pickelschlag gefeiert hat … und den nächsten in das Auge des Ebers, mitschreiend, sich die Blutspritzer übers höhnische Gesicht reibend, bis einer der Knechte Trigo den Pickel aus den Händen gerissen hat, um der Marter ein Ende zu machen. Am Esstisch kommt Quique manchmal darauf zu sprechen. Und wenn der Vater ihm eine Watschen langen will, weicht ihm der cabezón blitzschnell aus.
    Dieser Schneefall – es war ein kurzer Zauber gewesen. Der Himmel lichtete sich bereits, als die letzten Flocken noch herumtanzten, und als Rotraud weiterging, löste sich die feine weiße Decke gleichsam unter ihren Schritten und Blicken auf. Sonnenstrahlen brachen durch, und, vom Höhenwind zerrissen, gaben die Wolken nicht die gewohnten grauen, sondern leuchtende Zacken und Türme des Bergkammes frei: Sie waren mit Neuschnee überpudert.
    Rotraud schlug den Weg zum Obstgarten am Nordhang ein. Es roch die Luft »als wenn’s g’waschen wär«, ging ihr durch den Kopf, »wie meine

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