Scherbengericht: Roman (German Edition)
Lamminnereien – natürlich brauchst du dazu jede Menge Whisky, und die Folgen sind absehbar. Du weißt ja, niemals hab ich deinen Zustand von damals vergessen, du bist im Affentempo durch eine schreckliche Winternacht in den Highlands zum Gasthof zurückgefahren!« Doch Dr. Königsberg schüttelte nur amüsiert den Faltenwurf seines Greisengesichts: »Hauptsache, Gretli, wir beide sind vor dem Morgengrauen im breiten Hotelbett gelandet.«
Rotraud hatte gestern, spätnachts noch, als sie das Mensch-ärgere-Dich-nicht-Spiel abgeräumt hatte, in ihrem Wiener Kochbuch nachgeschlagen, um herauszufinden, was es mit dem Haggis auf sich habe. Zu diesem Gericht fand sie nur eine Fußnote. Eine Art schottische Presswurst schien das zu sein, mit einer Füllung von Lamminnereien. Aber das Rezept fand sie nicht. Also war Dr. Königsbergs gastronomische Erinnerung zu einer Herausforderung für ihre kreative Kochkunst geworden. Nachdem Trigo die Emailschüssel neben dem Herd abgestellt hatte und die beiden Frühstücksgäste die Wohnküche verlassen hatten – die Krohns waren nicht erschienen –, blieb Rotraud mit Delia allein zurück und machte sich an die Arbeit.
Sie bereitete die Füllung zu. Auf einem großen Brett lagen neben dem Magen alle Zutaten bereit: Leber, Lunge, Herz und Zunge, Zwiebel, Talg und Hafermehl, auch Knoblauchzehen und ein großes Büschel ihrer Gewürzkräuter. Kochen bedeutete ihr keine Arbeit, sondern ein fröhliches Zerhacken, Vermischen und Abschmecken. Sie genoss das Herumschieben des Kochgeschirrs auf der großen Herdplatte – von lauen zu warmen, von heißen zu glühenden Stellen und wieder zurück, sowie das souveräne Steuern der Backrohrhitze. Außerdem war der Tanz der Töpfe heute ein Akt der Gegenliebe. Am Ende versenkte sie ihr Werk gut verschnürt in einen Kessel mit lauem Salzwasser. Ein paar Stunden sollte der neu gefüllte Magen bei schwacher Hitze köcheln. Sie zog die Ente aus dem Backrohr: Dunkelbraun und wohlriechend, in glänzender, eingerissener Haut kam sie aus ihrer höllischen Finsternis hervor. Mütterlich liebevoll beugte sich Rotraud über den Vogel und übergoss ihn mit brodelnder Bratensauce. Am Abend brauchte er nur noch einmal kurz ins Rohr geschoben werden. Allzu heiß darf man einen so aromatischen Braten nicht verzehren.
Noch vertieft in diese Zubereitung, kam von Delia, die an der Abwasch stand, ein Ausruf der Überraschung:
»Patrona, es schneit!«
Rotraud drehte sich um und konnte es jetzt auch sehen.
Unter stoßendem Lachen wunderte sie sich: »Das darf doch nicht wahr sein …! Im Sommer?«
Sie riss ihre Strickjacke vom Hakenbrett neben der Tür und eilte in den Hof hinaus. Da muss sie doch gleich im Obstgarten nachsehen, was die Kirschenpflücker bei diesem Wetterwechsel treiben. Aber der plötzliche, ungewöhnlich dichte Schneefall wirkte verzaubernd: Sie blieb stehen, geblendet vom Flockengewirbel. Die Konturen ihrer Umgebung schienen sich aufzulösen, verschwanden in lichtem und zugleich verhüllendem Weiß. Schnee, der Küchengeruch in den Kleidern, vorwiegend nach Rauch und Zwiebeln – das brachte ihr jedes Mal die winterlichen Wochenenden mit den Eltern in den Sinn. »Auch im Winter, wenn es schneit«, waren sie oft ins Westerland hinaus- oder ins Sauerland hinaufgefahren, einfach nur, um in der heimatlich wirkenden Schneelandschaft zu verweilen. Wie sie doch, die vertriebenen Neutitscheiner, an Bochum litten! In der grauen Stadt mit den unzähligen Baustellen hatten sie zwar einen Wohnort und Arbeit finden können – von der geliebten Welt friedlicher Bauernhöfe, mit bestellten Feldern, Stallungen, Baumgruppen, Entenweihern und Obstgärten blieben sie aber ausgeschlossen. Im Winter ausgeschlossener denn je, wenn sie den Rauch sahen, der sich aus den Schornsteinen schraubte und es ihnen nach Kuchelwärme und Kachelofen war. Manchmal gewahrten sie ein Gesicht, das zwischen Gardinen zu ihnen herüberspähte, unfreundlich, abweisend wie ihnen schien. Knapp fünf Jahre alt war Rotraud gewesen, als die Familie ihren nordmährischen Hof hatte verlassen müssen. Der kriegsversehrte einarmige Bauer Kretschmer durfte nur die erlaubten dreißig Kilogramm Gepäck mitschleppen: Kleidung, Fotos und Brot. Aber das Familienerbstück, die große Bleikristallschüssel, die allein schon an die vier Kilo wog, hatte die Mutter sich mit einem breiten Schal unterhalb der Brust auf den Leib gebunden. »Ich ging mit der Schüssel schwanger«, erzählte sie später
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