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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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zu bilden vermochte. Und was hatte Dr. Königsberg dazu gemeint? Er fürchtete vor allem, dass der diagnostizierte, also mit einem Etikett versehene, Kranke bei »uns Normalen« keinen Ort mehr finde; mit einer Diagnose abgestempelt, werde er einfach in sein Labyrinth aus Bruchstücken zurückgestoßen. Man meide ihn, als ob wir nicht alle aus demselben, verletzlichen und gefährdeten Stoff bestünden. Wer ihnen helfen wolle, müsse selbst ein gutes Stück seiner konventionellen Vernunft abgeben, müsse sich auf ihren Weg begeben – und ihnen nicht nur gegenübertreten.
    Der Vater atmete durch. Auf diesem Weg bin ich – hoffentlich.
    Schon nach einer Stunde begannen die Äcker und Obstgärten kleiner und seltener zu werden, nur noch Oasen zu bilden, um schließlich ganz zu verschwinden. Aber einzelne Trauerweiden, windverbogene Zypressen, zerzauste Pappeln und geduckte Baumreihen verrieten dem Fahrer, wo der Fluss in mehreren Armen und mäandernd nun weiter durch die Sand- und Geröllwüste verlief. Kathas linke Hand bewegte sich auf einmal mit kunstvoller Affektiertheit vor Martins Gesicht. Sie untermalte offenbar die Eindrücke, die sie durchs blaue Glas empfing. Welch ungewöhnliche Gelenkigkeit, wenn sie den Handrücken und die zarten, langen Finger wie eine balinesische Tänzerin immer weiter zurückbog, oder wenn sie ihre Hand mit spitz zusammenlaufenden Fingern wie auf indischen Tempelskulpturen kreisen ließ.
    »Alle Bäume wirken grau«, sagte sie und folgte den letzten Exemplaren, die blaue Scherbe wie ein Monokel vor dem Auge.
    Allmählich führte sie die Straße in steiniges Hochland hinauf. Sie hatten das Tal des Río Chubut verlassen. Katha setzte das Glas ab und lehnte ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe.
    »Ich liebe Bäume«, flüsterte sie zu den nackten Tafelbergen hinaus. Sie zog das Notizheft aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, während Martin im schnellstmöglichen Tempo der Fernstraße folgte. In weiten flachen Schleifen, fast unmerklich, gewannen sie beständig an Höhe. Sie mussten die tausend Meter schon erreicht haben. »Hör mir zu, Pa, was ich geschrieben habe: ›Wir brauchen die Bäume, um zu wissen. Der Schatten ist unter jedem Dach gleich, aber unter jedem Baum ist er anders. Und auch unter demselben Baum verändert er sich. Es ist der Schatten verschiedener Jahreszeiten, in denen wir ihn suchen oder fliehen, auch der Schatten verschiedener Tagesstunden und veschiedenen Wetters. Manchmal ist der Schatten unter dem Baum lebendig, wirbelt und zittert und pulst – man vermeint, dass ihn ein Windstoß fortzureißen sucht. Aber er hat auch bodenständige Eigenschaften: Er gehört immer zu einem bestimmten Baum, führt ein Zusammenleben mit diesem, ist zart und schmächtig am Anfang, wird dunkel und mächtig im Laub des Sommers, verschwindet zuletzt fast, tief unter dem Astgerippe, wo er Buchstaben der Erinnerung zeichnet, wir müssen sie entziffern …, um wissend zu werden.‹ Ich will nur unter Bäumen leben! Pa – weißt du, welches Zärtlichkeitsbedürfnis Bäume haben? Sie brauchen Hirsche, die ihr Geweih an ihnen reiben, sie brauchen unsere Liebe. Bäume sind die Wale auf dem Festland. Ich möchte ein Kind von einem Baum haben, ich möchte einen Bäumling aufziehen … Warum bringst du mich jetzt in diese Einöde? Hier ist noch nie ein Baum aufgewachsen … Schau dort hinüber, das ist ein Steingreis, ein Toter. Das ganze hier ist ein riesiges seniles Steingreistotenlager … Bring mich bitte da hinaus!«
    Aber jedes Mal, wenn sie den Rand einer Anhöhe erreicht hatten, öffnete sich vor ihrem Blick eine weite, flache Wanne, die in der Ferne an ebensolche Höhenzüge anschloss, und wenn sie endlich zu diesen hinaufgelangt waren, wiederholte sich der Ausblick: eine braungelbe, steinige Senke, trockene Grasbüschel und staubbedeckte Dornenstauden. Sonst kein Lebenszeichen.
    »Es fehlt uns nur noch eine kurze Strecke, Katha, bald wirst du Bäume sehen, bald kommen wir zu den Wäldern … Du weißt ja, wie schön der Wald in den Bergen dort ist. Vorher sollten wir aber noch etwas essen. Knurrt dir nicht der Magen? Du hast doch kaum gefrühstückt.« Aber das schien sie nicht zu interessieren.
    »Pa, warum gefährden die Menschen Bäume und Wale?«
    Er musste auf das Gespräch eingehen, ihr so nahe wie möglich bleiben. »Vielleicht geht es dem Erwachsenen wie dem mürrischen Kind, das sein Spielzeug zerbricht.«
    »Aber worüber ärgert sich das Kind?«
    »Über seine Angst und

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