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Scherbengericht: Roman (German Edition)

Scherbengericht: Roman (German Edition)

Titel: Scherbengericht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germán Kratochwil
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Gewürzmischung, mit der Trigo den Rumpf eingerieben hatte, und war zufrieden. Wie liebevoll er, der große Grillmeister, das Fleisch immer vorbereitete. Was Dr. Königsberg von der Seele verstand, das verstand Trigo vom Fleisch. Im Rollstuhl wird er natürlich nicht mehr schlachten können. Das hätte er schon nach dem letzten Schwein aufgeben sollen. Die harte Arbeit kann leicht ein Mapuche oder ein Chilene besorgen, natürlich auf keinen Fall Quique. Auch das Feuermachen wird man Trigo abnehmen müssen … wird ihm beim Wenden des Lammes und beim Tranchieren helfen müssen, doch keiner soll sich einbilden, ihm das Messer zu führen – eher bringt er sich um.
    Plötzlich fiel ihr ein, wie viele Tätigkeiten ihr lieber Mann bald nicht mehr würde ausführen können, und Tränen trübten ihren Blick. Wie gut wenigstens, dass er nicht trinkt; nur saufen und Radio Habana , das wäre die reinste Hölle! Überhaupt, was für ein selten reiner, guter, moralischer Mensch ihr Trigo ist! Sie wird ihre erste Begegnung mit ihm auf dem Flughafen von Buenos Aires niemals vergessen. Der riesige Mann ist ihr plump, unbeholfen vorgekommen. Er hatte ihr in verlegener Höflichkeit die Hand – welch eine Pranke – entgegengestreckt, aber sie hatte ihm, wie in Bochum mit ihrer Mutter besprochen, schnell einen Kuss auf die Wange gedrückt; die ist schweißnass gewesen. Dann hatte er sich ihrem Gepäck zugewandt und ihr zugleich, verschämt wegsehend, eingestanden: Fräulein Kretschmer, ich habe ein kürzeres Bein, davon habe ich Ihnen nichts geschrieben. Und später noch, im Taxi: Fräulein Kretschmer, Sie sind zu nichts verpflichtet – wo sie sich doch schon mit Haut und Haar in dieses neue Leben hineingeworfen hatte. Recht so! Schließlich hatte ihre Mutter fünfzig Jahre mit einem einarmigen Mann zusammengelebt. Selbst wenn die letzte Prothese, die sich ihr Vater in Hamburg hatte anpassen lassen und sich mit ihr ans Steuer gesetzt hatte, ein Wunder der Technik gewesen war – am Abend musste er sie ablegen, und an manchen Tagen schnallte er sie erst gar nicht an, weil er sich ohne sie freier und zugleich echter fühlte: als ein Sudetendeutscher, der dem Vaterland seine treue Rechte geopfert hatte.
    Aber es war nicht allein die Vorstellung von Trigos Unbeholfenheit, seiner Hilfsbedürftigkeit, die sie quälte, es war seine zunehmende Verbitterung. Bei aller bisherigen Güte seines Wesens – das war nicht mehr der alte Trigo. Überhaupt in letzter Zeit, wenn er sein castrounverständliches Zeug brummte. Wieso wiederholte er jetzt öfter als früher »Ernst machen, umbringen«? Früher hatte sie das als eine derbe Übertreibung der Sprüche des Diktators hingenommen, als groben Spaß, jetzt aber lag eine Drohung darin, sodass sie sich beängstigt fragte, was?, wen? – und sich zugleich gar nicht ausmalen wollte, was und wen er damit meinen konnte.
    Hinter der Schlachtkammer lag der Holzplatz, begrenzt von dem Bach, dem »heiter murmelnden«, wie Clementine immer sagte. In einer sonnig-feuchten Ecke des Holzplatzes stand hoch und dicht der älteste Holunderbusch des Tilo-Hofes. Seine Dolden reiften am frühesten, seine Beeren waren die aromatischsten. Jedes Mal, wenn Clementine sich dem Bach näherte, der hier halb verborgen unter dicken Moospolstern vorbeigurgelte, stimmte sie unvermeidlich das Schubert’sche Forellenlied an, und es lag auch schon auf Rotrauds Lippen, als sie in die Helle treten wollte. Aber sie hielt inne, wich einen Schritt zurück, denn im Schatten unter dem Holunderbusch, der noch in voller Blüte stand, gewahrte sie Quique, knieend im Holzmehl.
    An seiner Seite stand eine Autobatterie, und im Sägemehl vor ihm war etwas in Bewegung. Was Rotraud alsbald erkennen konnte, ließ sie erstarren. Da hüpfte ein halbes Dutzend Laubfrösche und Wechselkröten um einen in den Boden getriebenen Eisenstab herum. Sie waren anscheinend durch Drähte an das Eisen angeschlossen. Von dem senkrechten Stab führte ein Kabel zur Batterie. Mit einem Drehknopf konnte der Konstrukteur wohl Stromstöße modulieren, denn die Tiere machten plötzlich Sprünge nach allen Seiten oder auch senkrechte Hopser. Es wäre eine völlig stille Szene gewesen, hätte dahinter nicht der Bach »heiter gemurmelt«. Der große weißblonde Kopf folgte, sich reckend und begleitend nickend, dem Gehüpfe. Bald schien Quique die Stromstärke zu verringern, dann blieben die Frösche und Kröten zuckend und mit klappenden Mäulern liegen, bald schien er

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